Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

297 Expressionismus/Dadaismus (1910–1920/1925) Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen. „Was ist mit mir gesche- hen?“, dachte er. Es war kein Traum. Kafka täuscht herkömmliche Leseerwartungen Wenn in einer Erzählung ein Mensch plötzlich in ein Tier verwandelt wird, so löst diese Information be­ stimmte Erwartungen der Leser/Leserinnen aus. So könnte man etwa ein Märchen erwarten. Dort sind Verwandlungen in Tiere gewohnte Motive. Eine ande­ re Erwartung wäre die, dass die Erzählung einen „dop­ pelten Boden“ hat und der Autor mit dieser Verwand­ lung etwas erklären oder symbolisieren will und eine Interpretation anbietet, in diesem Fall zum Beispiel, dass die Verwandlung aus irgendeiner Schuld Gregors erfolgt und als Buße und Sühne zu deuten sei. Doch „Die Verwandlung“ bietet, so wie Kafkas andere Werke, dem Leser weder das eine noch das andere an. Gregor arbeitet seit dem Konkurs der väterlichen Firma so fleißig, dass er die ganze Familie – Vater, Mutter und die Schwester Grete – versorgen kann. Seit seiner Ver­ wandlung muss er aber, eingeschlossen in sein Zim­ mer, von der Schwester wie ein Tier mit Nahrung ver­ sorgt werden. Gregor krabbelt mit seinen zappelnden Beinen im Zimmer herum, die Mutter fällt bei seinem Anblick in Ohnmacht, der Vater bombardiert ihn mit Äpfeln, einer davon bleibt in Gregors Rücken stecken. Gregor leidet wochenlang unter der Wunde, isst im­ mer weniger. Eines Abends, die Tür von Gregors Zim­ mer ist diesmal nicht wie sonst verschlossen, krabbelt er, angelockt vom Violinspiel der Schwester, ins Wohn­ zimmer zu den anderen Familienmitgliedern. Die Schwester begann zu spielen; Vater und Mutter verfolgten, jeder von seiner Seite, aufmerksam die Bewegungen ihrer Hände. Gregor hatte, von dem Spiele angezogen, sich ein wenig weiter vorgewagt und war schon mit dem Kopf im Wohnzimmer. Er wunderte sich kaum darüber, dass er in letzter Zeit so wenig Rücksicht auf die andern nahm; früher war diese Rücksichtnahme sein Stolz gewesen. Und dabei hätte er gerade jetzt mehr Grund gehabt, sich zu verstecken, denn infolge des Staubes, der in seinem Zimmer überall lag und bei der kleinsten Bewegung umherflog, war auch er ganz staubbedeckt; Fäden, Haare, Speiseüberreste schleppte er auf seinem Rücken und an den Seiten mit sich herum [...] Und trotz dieses Zustandes hatte er keine Scheu, ein Stück auf dem makellosen Fußboden des Wohnzimmers vorzurücken. Die Familie entdeckt ihn, weiß sich vor Ekel nicht zu fas­ sen, es wächst der Wunsch, das „Untier“ loszuwerden. „Weg muss er“, rief die Schwester, „das ist das einzige Mittel, Vater. Du musst bloß den Gedanken los­ zuwerden suchen, dass es Gregor ist. Dass wir es so lange geglaubt haben, ist ja unser eigentliches Un- glück. Aber wie kann es denn Gregor sein? Wenn es Gregor wäre, er hätte längst eingesehen, dass ein Zusammenleben von Menschen mit einem solchen Tier nicht möglich ist, und wäre freiwillig fortgegan- gen. Wir hätten dann keinen Bruder, aber könnten weiter leben und sein Andenken in Ehren halten. So aber verfolgt uns dieses Tier, […] will offenbar die ganze Wohnung einnehmen und uns auf der Gasse übernachten lassen. Sieh nur, Vater“, schrie sie plötzlich auf, „er fängt schon wieder an!“ Und in einem für Gregor gänzlich unverständlichen Schrecken verließ die Schwester sogar die Mutter, stieß sich förmlich von ihrem Sessel ab, als wollte sie lieber die Mutter opfern, als in Gregors Nähe bleiben, und eilte hinter den Vater, der, lediglich durch ihr Benehmen erregt, auch aufstand und die Arme wie zum Schutze der Schwester vor ihr halb erhob. Aber Gregor fiel es doch gar nicht ein, irgendjemandem und gar seiner Schwester Angst machen zu wollen. Er hatte bloß angefangen, sich umzudrehen, um in sein Zimmer zurückzuwandern, und das nahm sich 8 10 12 Franz Kafka, Foto, um 1914 2 4 6 8 10 12 14 18 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=