Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
295 Expressionismus/Dadaismus (1910–1920/1925) 4 „Ich habe den neuen Menschen gesehen!“ Georg Kaiser: „Die Bürger von Calais“ (1914) Das historische Thema Es sind die ersten Jahre des Hundertjährigen Krieges Frankreich – England (1338–1475). Das französische Heer hat eine wichtige Schlacht verloren, die Englän der belagern Hafen und Stadt von Calais. Die Bürger von Calais wissen um die Bedeutung der Stadt für Frankreich, verteidigen sie ein Jahr lang. Dann sind die Vorräte erschöpft. Die Stadt bietet den Engländern die Übergabe an. Eine mittelalterliche Chronik berichtet darüber. Die Bedingung des englischen Königs: „Wenn sechs der angesehensten Bürger die Stadt verlassen, nackt, nur mit einem Hemd bekleidet […], den Strick um den Hals, die Schlüssel der Stadt […] in der Hand, so werde ich mit ihnen verfahren nach meinem Willen und die Bewohner in Gnaden aufnehmen.“ Sechs sind bereit, am nächsten Morgen übergeben sie den Schlüssel. Der König ist für ihren Tod. Sein Argument: „Die von Calais haben so viele meiner Leute zu Tode ge- bracht, dass es recht und billig ist, wenn auch sie ster- ben.“ Auf Bitten der Königin, die unmittelbar vor ihrer Niederkunft steht, werden die sechs aber begnadigt. Erster Akt: Kaisers Änderung Kaisers Stück setzt mit der Bedingung des englischen Königs ein. Der Bürgermeister von Calais, Jean de Vien ne, verkündet sie: Sechs Freiwillige, die sich ausliefern, oder Erstürmung der Stadt. Natürlich gibt es alte Krie ger wie den Hauptmann Duguesclins, die für den Kampf sind, auch wenn dabei die Stadt und der Hafen zerstört werden. Ihr Gegenspieler und Vertreter der „neuen Menschen“ ist Eustache de Saint-Pierre. Sind Hafen und Stadt nicht gemeinsamer Besitz der Men schen auch kommender Zeiten, ist es Mut, sehenden Auges in der Untergang zu gehen – das sind seine Fra gen. Ist es nicht besser, sechs opfern sich, und nicht die ganze Stadt? Doch nicht wie historisch überliefert sechs Bürger melden sich auf seine Rede hin, sondern sieben Männer: Jean d’Aire, der zweite, dritte und vier te Bürger, Jacques de Wissant, Pierre de Wissant und Eustache de Saint-Pierre. Das Los soll entscheiden, wer sich nicht auszuliefern braucht. Zweiter Akt: die Entscheidung Wer kommt davon? Eustache de Saint-Pierre schlägt vor: Wer keine blaue Kugel aus einer mit einem Tuch verhängten Schale greift, ist frei. Die Sieben greifen die Kugeln. Alle sind blau. Eustache hat sieben blaue in die Schale getan. Sein Vorschlag: Wer am nächsten Morgen als Letzter zum Treffpunkt der Übergabe an den englischen König kommt, der ist frei von seinem Versprechen. Dritter Akt: der Neue Mensch Die Bürger versammeln sich in der Früh auf dem Marktplatz. Die Spannung ist groß. Wer hat sich freige macht und kommt als Letzter? Jean d’Aire ist der Erste, es kommen der zweite, dritte und vierte Bürger, dann Jacques und Pierre de Wissant. Die sechs sind kom plett. Die Leute murren: Hat sich also Eustache de Saint Pierre mit diesem Trick der sieben blauen Kugeln gerettet? Alles deutet darauf hin. Gewaltsam will man ihn holen. Doch dann kommt der blinde Vater von Eustache mit Eustache auf einer Bahre – als Lei che. „Ich habe den neuen Menschen gesehen!“ , ruft der Vater aus. Eustache ist freiwillig den sechs in den Tod vorausgegangen, um keinem die Möglichkeit zu neh men, sich für die Stadt zu opfern. Das Ende Doch noch ist vor allem wichtig, dass die Männer es nicht versäumen, sich dem englischen König zu über geben: In der lautlosen Stille um den Markt brechen die Sechs auf – leise klatschen die nackten Sohlen auf den Steinen. Die Gasse links hat sich vor ihnen weit geöffnet; aus ihr nähern sich schnell klirrende Schritte. Auguste Rodin, Die Bürger von Calais, Bronzeguss, 1895, vor dem Hôtel de Ville von Calais (Frankreich) 2 4 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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