Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
291 Expressionismus/Dadaismus (1910–1920/1925) Der Leseraum 1 „Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut.“ Jakob van Hoddis: „Weltende“ (1911), Georg Heym: „Der Gott der Stadt“ (1911), Gottfried Benn: „Kleine Aster“ und „Schöne Jugend“ (1912) Jakob van Hoddis: „Weltende“ – traditionelle Form, verblüffender Inhalt Im Mai 1910 herrscht in Europa Panik. Der Halleysche Komet erscheint wieder nach 76 Jahren. Es wird be fürchtet, dass es zu vernichtenden Explosionen kom men könnte. Tastächlich ist der Kometenschweif rie sig. Er bedeckt fast den ganzen Himmel und verdun kelt zeitweise die Sonne. Das Gedicht „Weltende“, das die Anthologie „Menschheitsdämmerung“ eröffnet, ironisiert die in der Bevölkerung grassierende Angst vor dem Kometen. Der Bürger, der die gewohnte Welt bewohnt, hat seine Orientierung verloren. Die Dichter kollegen sind begeistert: „Diese zwei Strophen, o diese acht Zeilen schienen uns in andere Menschen verwan- delt zu haben, uns emporgehoben zu haben aus einer Welt stumpfer Bürgerlichkeit, die wir verachteten […].“ Weltende Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut. In allen Lüften hallt es wie Geschrei. Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei, Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut. Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken. Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. Die Eisenbahnen fallen von den Brücken. ■■ Beschreiben Sie, welche Auswirkungen der „Sturm“ hat. ■■ Erläutern Sie, welche Verben irritieren und kaum zum dazugehörigen Subjekt passen und welche Verse ironisch ein eher belanglo ses Problem schildern. Georg Heym: „Der Gott der Stadt“ – die Großstadt tritt in die Lyrik Das Gedicht „Gott der Stadt“ hielt der Dichter selbst für eines seiner besten. Drucken lassen wollte er es ur sprünglich aber nicht, weil die „Zeit vielleicht noch nicht empfänglich ist“ . Tatsächlich fand Heym nur ge ringen Widerhall beim Publikum. Zu albtraumhaft, voll von Bedrohung, Verfall, Zerstörung war für viele die Grundstimmung seiner Lyrik. Der Gott der Stadt Auf einem Häuserblocke sitzt er breit. Die Winde lagern schwarz um seine Stirn. Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit Die letzten Häuser in das Land verirrn. Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal 1 , Die großen Städte knien um ihn her. Der Kirchenglocken ungeheure Zahl Wogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer. Wie Korybanten-Tanz 2 dröhnt die Musik Der Millionen durch die Straßen laut. Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut. Das Wetter schwelt in seinen Augenbrauen. Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt. Die Stürme flattern, die wie Geier schauen Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt. Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust. Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust Und frisst sie auf, bis spät der Morgen tagt. 2 4 6 8 Aufgabe 2 4 6 8 10 1 Baal: altorientalischer Gott, dem Menschenopfer dargebracht wurden 2 ekstatische Tänze zu Ehren der antiken Muttergottheit Kybele, oft mit einer Taufe durch Stier- oder Widderblut verbunden 12 14 16 18 20 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum d s Verlags öbv
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