Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
290 Expressionismus/Dadaismus (1910–1920/1925) Dadaismus: Die Kunst der Anti-Kunst Im Jahr 1916 treffen sich in Zürich die deutschen Litera ten Richard Huelsenbeck und Hugo Ball, der Elsässer Hans Arp und der Rumäne Tristan Zara in einer Kneipe, dem Cabaret Voltaire. Zürich hat eine alte Tradition als Zufluchtsort für politische Emigranten. Sie blättern in einem deutsch-französischen Wörterbuch und finden per Zufall das Wort „dada“. Es bedeutet auf Franzö sisch Steckenpferd oder auch Hobby, im Rumänischen ja, ja und gilt im Deutschen als harmloses Kinderlall wort. „Dada“ scheint ihnen der perfekte Begriff für ihre eigene Kunst. Sie ist „Anti-Kunst“, gerichtet gegen jede bisherige Kunst, auch gegen die Expressionisten. Für deren Hoffnung, dass Kunst und Literatur gegen Krieg und Politik wirken könnten, haben sie nur Hohn übrig. Fast „selbstverständlich“ ist eine ihrer Zielscheiben Goethe. Eine der dadaistischen Losungen: „Wir werden Weimar in die Luft sprengen.“ Das „Dadaistische Mani fest“, geschrieben 1918 in Berlin, dem späteren Zen trum des Dadaismus, fasst ihr Programm zusammen: Die höchste Kunst wird diejenige sein, die […] die tausendfachen Probleme der Zeit präsentiert, der man anmerkt, dass sie sich von den Explosionen der letzten Woche werfen ließ, die ihre Glieder immer wieder unter dem Stoß des letzten Tages zusammensucht. […] Hat der Expressionismus unsere Erwartungen auf eine solche Kunst erfüllt […]? Nein! Nein! Nein! […] Gegen die blutleere Abstraktion des Expressionismus! Gegen die weltverbessernden Theorien literarischer Hohlköpfe! Für den Dadaismus in Wort und Bild, für das dadaistische Geschehen in der Welt. ■■ Stellen Sie dar, welche Forderungen die Dadaisten an die Kunst stellen und welche Vorwürfe sie an die Expressionisten richten. ■■ Erläutern Sie, was Kunst nach Ansicht des Dadaismus nicht kann. Die provokanten Methoden der Anti-Kunst Die bewusste Provokation braucht neue Methoden. In einer Zeit, in der ihrer Meinung nach Krieg, Zerstörung, Geschäftemacherei mit der „Vernunft“ begründet wer den, setzen die Dadaisten auf die „Unvernunft“. Logik gibt es in dadaistischen Texten nicht mehr. Durchge henden Sinn gibt es genauso wenig; die Wörter werden in ihre Bestandteile zerlegt, bis nur noch einzelne Laute übrig bleiben. Statt eines „Sinngedichts“ entsteht das „Lautgedicht“. Oft konzentriert man sich nur auf das Wort in seiner grafischen Gestalt. So entstehen die „Buchstabengedichte“. In manchen Gedichten ist eine Interpretation möglich, manche Texte hingegen lassen sich gar nicht mehr aufschlüsseln. Die „Karawane“ von Hugo Ball (1886–1927) und das „Gedicht“ von Kurt Schwitters (1887–1948) zeigen Ih nen diese Spannweite (6) . Manche Gedichte werden bewusst in schwer lesbarer Handschrift geschrieben, damit der Drucker selbst kreativ werden muss. Wäh rend die Dadaisten ihre Gedichte vortragen, schlüpfen sie in bizarre Kleidung und vollführen Verrenkungen, um ein „gymnastisches“ Gedicht entstehen zu lassen. Sie führen mit Pauken, Kinderrasseln und Topfdeckeln den Lärm – französisch le bruit – in die Kunst ein und lesen mehrere Texte zugleich vor. Der Grund: Das Le ben ist nichts für zartbesaitete Seelen und in der Welt passiert so vieles gleichzeitig. So entstehen das „brui tistische“ (= „lärmende“) und das „simultanistische“ (= „gleichzeitige“) Gedicht. Der künstlerische Zufall Auch der Zufall ist für die Dadaisten ein wichtiges Prinzip für die Entstehung von Kunstwerken, wie die folgende Anleitung von Tristan Tzara zeigt. Damit ist es auch für jeden möglich, ein Kunstwerk zu schaffen: Um ein dadaistisches Gedicht zu machen Nehmt eine Zeitung. Nehmt Scheren. Wählt in dieser Zeitung einen Artikel von der Länge aus, die Ihr Eurem Gedicht zu geben beabsichtigt. Schneidet den Artikel aus. Schneidet dann sorgfältig jedes Wort dieses Artikels aus und gebt sie in eine Tüte. Schüttelt leicht. Nehmt dann einen Schnipsel nach dem anderen heraus. Schreibt gewissenhaft ab in der Reihenfolge, in der sie aus der Tüte gekommen sind. Das Gedicht wird Euch ähneln. Und damit seid Ihr ein unendlich origineller Schriftsteller mit einer charmanten, wenn auch von den Leuten unverstan- denen Sensibilität. Schreiben Sie Ihr Dada-Gedicht nach dem Rezept von Tzara! 2 4 6 8 10 Aufgabe 2 4 6 8 10 12 Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus - Nur zu Prüfzwecken – Eige tum des Verlags öbv
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