Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
289 Expressionismus/Dadaismus (1910–1920/1925) [H]eute geht’s […] gegen Goethe, der als Freund der Ordnung zum Urbild des Bürgers, Philisters, Spießers wird, ein jämmerlicher Fall […] in bodenlo- se Feigheit und Beschränktheit. Weg mit seinem Gipfskopfe […]. Weg mit allen, die in seinem Gefolge gehen. Weg mit Gottfried Keller, diesem erlauchten Blödian […] und Säufer. Weg überhaupt mit den so genannten Dichtern! Schluss! Unsere Kultur ist Gerümpel. […] Der junge Dichter muss demolieren […]. Der junge Dichter hat nur eine Mission: ruhestörenden Lärm zu verursachen […] – unbekümmert um das Schwanken und Krachen vermorschter Gebeine. Vor allem eines halten die Expressionisten für unsin nig: die Welt einfach abzubilden. Denn „die Welt ist da. Es wäre sinnlos, sie zu wiederholen.“ Für sich selbst ha ben die Expressionisten viele Namen: Neopathetiker, Aktivisten, Sturmkünstler, Abstrakte. Die Lyrik: appellierend, anklagend, desillusionie- rend 1919 erscheint die repräsentativste Sammlung expres sionistischer Gedichte. Sie trägt den Titel „Mensch heitsdämmerung“. Die vier Abschnitte zeigen die The matik der expressionistischen Lyrik: „Sturz und Schrei“, „Erweckung des Herzens“, „Aufruf und Empörung“, „Liebe den Menschen“. Nicht „rühren“ sollen die Ge dichte, sondern „aufrühren“ und „umwühlen“ . Optimis tischer Glaube an einen kommenden „neuen“ Men schen ist ein zentrales Thema. Charakteristisch dafür ist die Lyrik Franz Werfels. Die Konfrontation mit dem Bedrohlichen, Abstoßenden und Grotesken bildet die zweite Facette der Lyrik, wie die Gedichte „Weltende“ von Jakob van Hoddis (1887–1942), „Der Gott der Stadt“ von Georg Heym (1887–1912) und „Aster“ und „Schöne Jugend“ von Gottfried Benn (1886–1956) zeigen (1) . Die Form der Gedichte ist sehr unterschiedlich: Auf der ei nen Seite zeigen sie metaphernreiche, manchmal pa thetische Sprache. Ihnen stehen Texte gegenüber, die auf alle schmückenden Beiwörter verzichten, den übli chen Satzbau zerstören und die Logik negieren. „Zer- schlagt die Grammatik, die die Sprache hemmt! […] Kein Subjekt, kein Objekt, kein Prädikat, keine Deklina- tion, keine Konjugation, keine Grammatik und, ach! kei- ne Logik […]“ , so definiert einer der Autoren das Pro gramm dieser Gedichte. Zu den extremsten Beispielen dieser aufs Äußerste komprimierten, grammatiklosen Lyrik zählen die Gedichte von August Stramm (1874– 1915), wie „Patrouille“ und „Zwist“ (2) . Eher selten sind expressionistische Liebesgedichte. Sie sind vor allem mit dem Namen Else Lasker-Schüler (1876–1945) ver bunden. „Ein alter Tibetteppich“ ist eines ihrer be rühmtesten Gedichte (3) . Das Drama: Der neue Mensch tritt auf Empörung, Pathos und Appell lassen sich nicht nur in der Lyrik, sondern auch auf der Bühne besonders gut demonstrieren. Das Drama ist deshalb die zweite gro ße Leistung der Expressionisten. Der Kampf des „neu en“ Menschen gegen den „alten“ ist das beherrschen de Thema. Oft wird diese Kontroverse am Beispiel des Generationskonfliktes vorgeführt. Der Kampf der Söh ne gegen die Väter wurde von den expressionistischen Dichtern auch persönlich empfunden. „Ich wäre einer der größten Dichter geworden, wenn ich nicht einen solchen schweinernen Vater gehabt hätte“ , schreibt Ge org Heym 1911. Die Söhne sehen sich als Weltverände rer gegen das tyrannische Alte. Elternmord, Vatermord werden als Symbol für den Untergang der Autoritäten gefeiert. Die Erneuerung des Menschen, der durch sein Beispiel auch die anderen verändert, zeigt das Drama „Die Bürger von Calais“ von Georg Kaiser (1878– 1945) (4) . Die Epik des Expressionismus und Franz Kafka Die epische Dichtung ist nicht die stärkste Leistung des Expressionismus. Pathos, Enthusiasmus, Zertrüm merung der Sprache lassen sich in Romanen und Er zählungen am wenigsten durchhalten. Ein Epiker aus dieser Zeit hat allerdings Weltgeltung erreicht, näm lich Franz Kafka (1883–1924). Er entzieht sich jedoch jeder Einordnung in eine bestimmte literarische Strö mung. Kafka wird hier deshalb mit dem Expressionis mus zusammen vorgestellt, weil einige seiner Werke zeitgleich dazu entstanden sind. Seine Erzählungen wie „Das Urteil“ (1912), „Die Verwandlung“ (1912–15), „In der Strafkolonie“ (1914), die Romane „Amerika“ (be gonnen 1912), „Der Prozess“ (1914/15) und „Das Schloss“ (1922), seine Parabeln wie „Eine alltägliche Verwirrung“ berichten von der Fremdheit des Menschen in einer Welt, die er nicht mehr versteht und die ihm nur mehr als Labyrinth erscheint. Ein Schlüssel zu Kafkas Werk ist sein „Brief an den Vater“ (5) . Der Einzelne ist nur mehr ein Ausgelieferter, sei es an persönliche Institu tionen, wie Vater oder Familie, sei es an gesellschaftli che Mächte, wie Justiz und Bürokratie, oder an die moderne Maschine. Das Adjektiv „kafkaesk“ als Be zeichnung für eine absurde albtraumhafte Situation wird inzwischen in der Alltagssprache verwendet. 2 4 6 8 10 12 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus - Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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