Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
278 Symbolismus, Impressionismus, Fin de Siècle, Wiener Moderne (1890–1920) das Morden und Hetzen der Menschen ausgesprochen wird. Wenn die Propaganda verkündet, es handle sich im Krieg um eine Aufgabe der Ehre und des Patriotis mus, so verkürzt Kraus diese Phrase zu dem die Ge schäfte mit dem Krieg entlarvenden Satz: „Jawohl, es handelt sich in diesem Krieg!“ Kraus ist ein Meister der Sprache. In Tausenden von Aphorismen komprimiert er seine satirischen Attacken: 1. Paternoster heißt ein Lift. Betlehem ist ein Ort in Amerika, wo sich die größte Munitionsfabrik befindet. 2. Friseurgespräche sind der unwiderlegbare Beweis dafür, dass die Köpfe der Haare wegen da sind. 3. „Ach, das ist ja zum Schießen!“, hörte ich einen Dreijährigen sagen […]. 4. Schwarz auf weiß, so hat man jetzt die Lüge. 5. Wie wird die Welt […] in den Krieg geführt? Diplomaten belügen Journalisten und glauben es, wenn sie’s lesen. 6. Herr, vergib ihnen, denn sie wissen, was sie tun! 7. Das Wort „Familienbande“ hat einen Beige- schmack von Wahrheit. 8. Die Kunst dient dazu, uns die Augen auszuwischen. 9. Die Schule ohne Noten muss einer ausgeheckt haben, der vom alkoholfreien Wein betrunken war. 10.Wenn die Menschheit keine Phrasen hätte, bräuchte sie keine Waffen! ■■ Ordnen Sie die Aphorismen folgenden Themen zu: Sprachkritik, Pressekritik, Kunstkritik, Kritik an vorgetäuschten harmo nischen Beziehungen, Kritik am Bildungssys tem! ■■ Erklären Sie, welchen Aphorismen Sie zustimmen und welche Sie kritisieren würden. „Die letzten Tage der Menschheit“ 220 Szenen, in denen mehr als ein halbes Tausend Fi guren auftreten, umfasst Karl Kraus’ Drama „Die letz ten Tage der Menschheit“, entstanden 1918/19. Das Geschehen des Ersten Weltkriegs wird in einer Abfolge von scheinbar wahllos aneinandergereihten Aus schnitten vorgeführt. In Wien, Berlin, in Kanzleien, Ka sernen, Hinterhöfen, Bürgerwohnungen, in Zeitungs redaktionen und Lazaretten, im Prater, in Schützengrä ben und Wallfahrtskirchen treten Kaiser Franz Josef, der deutsche Kaiser Wilhelm, Feldherren, Soldaten, Zi vilisten jeder sozialen Schattierung auf. Jeder Akt stellt die Ereignisse eines Kriegsjahres vor, beginnend mit der Ankündigung des Zeitungsverkäufers „Extraausga- bee –! Ermordung des Thronfolgers! Da Täta vahaftet!“ . Über ein Drittel des Textes ist eine Montage aus Zei tungsartikeln, Militärbefehlen, Annoncen, Verordnun gen, Gerichtsurteilen aus diesen Jahren. Gerade dieses authentische Material legt die im Krieg auf die Spitze getriebene Manipulation bloß. Aufgrund der Länge, der Personenanzahl, der Hunderten von Schauplätzen ist das Drama nahezu unspielbar. Gestaltet wurde es unter anderem als Hörspielbearbeitung und als Le sung von Helmut Qualtinger, beide erhältlich als CD. Die Demaskierung der NS-Ideologie Am 30. Jänner 1933 übernehmen die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht. Im Frühjahr 1933 beginnt Kraus mit der Arbeit an einem Sonderheft der „Fackel“. Er dokumentiert den schleichenden Beginn der Na zi-Herrschaft vor allem anhand einer Analyse von NS-Zeitungsartikeln und der Sprache des National sozialismus. Im Herbst 1933 beendet er das Manuskript, doch er veröffentlicht es nicht. Die Gründe: Kraus sah sich nach der Ermordung des Schriftstellers Theodor Lessing in Prag durch die Nationalsozialisten selbst in Gefahr und fürchtete als jüdischer Autor, dass die Ver öffentlichung in Deutschland einen Rachefeldzug ge gen die jüdische Bevölkerung auslösen könnte. So er schien dieses Werk, nach Ansicht des Schweizer Schrift stellers Friedrich Dürrenmatt „das Wichtigste, was die deutsche Literatur zum Nationalsozialismus hervorge- bracht hat“ , unter dem Titel „Dritte Walpurgisnacht“ erst 1952. Für Kraus war die erste Walpurgisnacht, die Nacht, in der das Böse losgelassen wird, die aus Goe thes „Faust“, die zweite der Erste Weltkrieg, die dritte die Machtergreifung Hitlers. Kraus schwieg jedoch nicht. In einem mehr als 300 Seiten starken Sonderheft der „Fackel“ demaskierte er 1934 die Unmenschlichkeit der NS-Ideologie an Beispielen wie diesem: [Vor ein paar Tagen] war von dem Fall jenes Mäd- chens die Rede gewesen, das mit kahl geschornem Kopf von sechs Bewaffneten durch die Straßen Nürn bergs geführt und zur Schau gestellt wurde, mit einer Tafel um den Hals, an der die abgeschnittenen Zöpfe Aufgabe 2 4 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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