Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

277 Symbolismus, Impressionismus, Fin de Siècle, Wiener Moderne (1890–1920) „Sie müssen ja die Dorfschönheit gewesen sein –.“ „Das war ich!“ „Und alle Jünglinge müssen sich um Sie beworben haben –.“ „Das haben sie getan.“ „Und da haben Sie sich den gerade aussuchenmüssen?!“ „Er mich!“ „Und Sie sind so ruhig, so gesichert –.“ „Da kann man nicht aufbegehren. Es ist das Schicksal!“ „Nein, die Dummheit war es, die Borniertheit –.“ „Das ist ja unser Schicksal!“ Später sagte sie: „Rühren Sie mich nicht an, es passt mir nicht. Weshalb streicheln Sie meine Haare?! An mir ist nichts mehr zum Streicheln –.“ Ich schenkte ihr eine Krone. „Wofür geben Sie mir das?!“ „Gewesene Dorfschönheit!“ erwiderte ich. Da begann sie zu weinen. Entwerfen Sie, gemäß Altenbergs Bemerkung, seine kleinen Beobachtungen würden dasselbe sagen wie ein dicker Roman, eine Romanhand­ lung zu den beiden Texten: Vorgeschichte, Fortsetzung, Ende! Der Fokus „Die Fackel“ Der streitbare Satiriker Karl Kraus Als 1897 das Café Griensteidl, Mittelpunkt der Wiener Literaturszene, abgerissen – „demoliert“ – wurde, nahm dies der Autor und Kritiker Karl Kraus (1874– 1936) zum Anlass für eine Abrechnung mit der gesam­ ten „Wiener Moderne“. In seinem Aufsatz „Die demo­ lierte Literatur“ (1898) polemisiert er gegen die Dich­ ter, die er als „Stimmungsmenschen“ ironisiert, die im Café „seltsame Farbenkompositionen für Gefrorenes und Melange“ wünschen, und bedauert spöttisch, dass sie sich nach dem Abriss nun einmal im wirklichen Le­ ben zurechtfinden müssten. Für Kraus war Literatur keine Feier des ästhetisch Schönen, sondern Waffe der Kritik an Politik und Gesellschaft. Das Programm der „Fackel“: „Was wir umbringen“ Im Allgemeinen stellen sich neue Zeitschriften in ihrer ersten Nummer mit ihrem Programm vor, das nicht sel­ ten sinngemäß die Phrase enthält: „Was wir Ihnen, ver­ ehrte Leserinnen und Leser, bringen wollen, ist …“ Kraus hingegen leitet die erste Nummer seiner Zeit­ schrift „Die Fackel“ mit den Worten ein: „Kein tönendes ‚Was wir bringen‘, sondern ein ehrliches ‚Was wir umbrin- gen‘ hat sie sich als Leitwort gewählt.“ Von 1899 bis 1936 schreibt Kraus 922 Nummern der Zeitschrift. 22.000 Sei­ ten voll Kritik, Satire und Polemik umfasst die Gesamt­ ausgabe. Kraus sieht die „Fackel“ als Enthüllungsblatt und hat damit anfangs einen Riesenerfolg. 30.000 Exemplare verkaufen sich in der ersten Woche. Nur we­ nige Zeitungen übertreffen diese Auflage, unter ande­ rem die „Neue Freie Presse“. Vor allem gegen sie, von Kraus als „Neue Feile Presse“ beschimpft, und gegen die Manipulation und den Missbrauch der Sprache durch die Medien richtet sich seine Kritik. Ihr Ziel: die „Tro- ckenlegung des weiten Phrasensumpfes“ . Käufliche Berichterstattung Der Presse wirft Kraus vor, dass „bloß das, was zwischen den Zeilen steht, nicht bezahlt“ sei, alles andere an Be­ richterstattung sei käuflich. Diese Attacke des Autors hatte ihren Grund. Kraus war es gelungen, die Geldflüs­ se großer Wirtschaftsunternehmen an Zeitungen nach­ zuweisen, um wohlwollende Berichterstattung zu er­ kaufen. Wenige Wochen nach Erscheinen der ersten Nummer der „Fackel“ wurde Kraus nachts von Journa­ listen überfallen und misshandelt. Kraus selbst deckt mit Scharfsinn die hinter den Phrasen der Sprache lie­ genden Abgründe auf. Die Phrase „der Krieg ist ausge- brochen“ ist für Kraus die große Verschleierung der Verantwortlichkeit der Politik. Denn der Krieg ist für Kraus kein Naturereignis. Nur Vulkane z. B. „brechen aus“ . Wenn Leute darüber reden, dass der Krieg ein gro­ ßer Spaß für sie werde, auf Österreichisch eine „Mords- hetz“ , so sieht Kraus, wie unbewusst mit diesem Wort 10 12 14 16 18 20 22 24 26 Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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