Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
260 Naturalismus (1885–1900) Gelingen wirklich eintritt. Denken Sie dabei an sich: Ein Kino- oder Fernsehfilm, ein Theaterstück oder ein Ro man/eine Erzählung mit tragischem Ausgang beeindru cken Sie in der Regel mehr als eine Happyend-Geschich te. Wo liegt der Grund für diesen Unterschied? Die Wis senschaft der Ästhetik hat sich mit den Gründen be fasst, weshalb manche Wahrnehmungen von uns als beeindruckender empfunden werden als andere. Freude am Wechsel des Reizniveaus Die Freude an der Wahrnehmung kommt zustande durch das Anheben und Absenken unseres Reizniveaus. Die Wahrnehmung ernster und trauriger Begebenhei ten setzt intensivere Emotionen frei als die Wahrneh mung heiterer. Voraussetzung ist allerdings, dass es sich nicht um reale Ereignisse handelt, sondern solche aus der „Scheinwelt“ der Kunst. Ästhetische Befriedi gung erhalten wir nicht nur, wenn Held oder Heldin ei nes Films oder Dramas haarscharf dem drohenden Un tergang entkommen, sondern auch dann, wenn das befürchtete Unheil eintritt. Da wir selbst nicht betroffen sind, können wir die aufgebaute Spannung als Betrof fenheit abreagieren. Die Rückkehr aus der manchmal „unerträglichen“ Spannung in die entspannte Alltäglich keit ist ein Lustgewinn. Und es ist klar, dass die Befürch tung eines tödlichen Ausgangs mehr Spannung auf baut als die Hoffnung auf ein Happyend. Schadenfreude? Ist es Schadenfreude, wenn wir ästhetische Befriedi gung aus dem Unglück anderer gewinnen? Eher nicht: Der Begriff Schadenfreude wäre nur zutreffend, wenn wir den vom Untergang bedrohten Helden/Heldinnen das Unglück gönnen oder geradezu wünschen. Und weshalb so viele tragische Untergänge auch in der modernen Literatur? Ohne Zweifel hat sich im Laufe der Geschichte vieles zum Besseren gewendet. Soziale Not herrscht, zumin dest in den Industriestaaten, bei weitem nicht mehr wie zur Zeit des Naturalismus, die Rolle der Frau ist nicht mehr so festgeschrieben wie bei „Effi Briest“ oder „Emilia Galotti“. „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ stünden bessere Möglichkeiten offen, ihre Existenz ge meinsam zu sichern, als damals. Weshalb aber gibt es auch in der modernen Literatur noch das Schwere, Düstere, Ernste in höherem Maß als das Lustige und Amüsante? Auch dafür hat die Literaturwissenschaft eine Antwort gefunden. Dass die heutige Literatur und Kunst die Welt als so wenig heiter zeigen, hat auch den Grund, dass sie mit einer „Unterhaltungsindustrie“ (Fernsehen, Film, Video) in einer „Spaßgesellschaft“ konkurrieren müssen, die alles lustig und witzig findet. Deshalb weichen Kunst und Literatur ins andere „Ex trem“ aus. Und wo ist der Unterschied zwischen Kunst und Trivialem? An Gedrucktem, über Internet Abrufbarem oder an Fil men, die Grausamkeiten, Aggressionen, Gewalt dar stellen, fehlt es in unserer Zivilisation nicht. Im Allge meinen bezeichnet man solche Produkte als niveau los. Dennoch muss man eingestehen, dass auch Litera tur, deren hohen Rang niemand in Frage stellen würde, mit ähnlichen Reizen arbeitet. Der Literaturwissen schafter Hans-Dieter Gelfert verweist in diesem Zu sammenhang auf die Dramen Shakespeares, „dessen Stücke kaum weniger sensationelle Effekte enthalten als Bücher und Filme der heutigen Trivialkultur. In ihnen werden Menschen gemordet, es werden Augen ausge- stochen, Hände abgehackt und Zungen herausge- schnitten. In den Stücken seiner Zeitgenossen geht es zum Teil noch wüster zu.“ Wo liegt aber nun der grund legende Unterschied zwischen Literatur vom Rang Shakespeares und seichter Unterhaltungsliteraur? Große Literatur führt dem Menschen seine extremen Möglichkeiten vor – gerade auch an negativen seeli schen Energien – und warnt davor, diese auszuleben. Shakespeares gewaltbereite Helden zum Beispiel bü ßen mit ihrem Untergang, Trivialliteratur hingegen weckt Aggression und stimuliert zur Gewalt, ohne sie zu verurteilen. ■■ Fassen Sie die Gründe für die Faszination von Schmerz, Trauer und Unglück in der Literatur zusammen. ■■ Bestimmen Sie den Unterschied zwischen „großer Literatur“ und „Trivialliteratur“. Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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