Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

26 Hochmittelalter (1170–1250) 2 „Ihr sollt nicht viele Fragen stellen!“ Wolfram von Eschenbach: „Parzival“ (zwischen 1205 und 1210) „Parzival“: die beliebteste Erzählung des deutschen Mittelalters 75 erhaltene mittelalterliche Handschriften und sogar gedruckte Ausgaben aus dem 15. Jahrhundert, der Frühzeit des Buchdrucks, dokumentieren die Beliebt­ heit des „Parzival“. Die Wissenschaft schätzt, dass im Mittelalter mehr als 1.000 Parzival-Handschriften kur­ sierten. Die Entstehungszeit des Riesenwerkes – fast 25.000 Verse – lässt sich auf 1205 bis 1210 festsetzen. Ein Autor, der nicht lesen und schreiben kann? „Ine kann decheinen buochstap“ – „Ich kann keinen einzigen Buchstaben“ –, so beschreibt sich der Autor selbst. Ohne Zweifel ist das eine bewusste Untertrei­ bung. Denn Vorbild für Wolframs „Parzival“ ist Chrétien de Troyes’ unvollendeter Gralsroman „Perceval le Gal­ lois ou Le conte du Graal“. Wolfram hätte ohne Le­ sekenntnisse Chrétiens Vorlage kaum nützen können. Die Brennpunkte des „Parzival“ in einer neuhochdeutschen Nachdichtung Eine Mutter will ihr Kind nicht verlieren Ihr Mann ist im ritterlichen Kampf gefallen, kein Wun­ der, dass Herzeloyde ihrem Sohn Parzival dieses Schicksal ersparen will. In bewusst gewählter Abge­ schiedenheit wächst er auf, bei Todesstrafe ist es in seiner Anwesenheit verboten, von Rittern zu sprechen. Doch das Schicksal lässt sich nicht vermeiden. Auf der Jagd begegnen Parzival im Glanz ihrer Rüstung drei schöne Ritter. Parzival hält sie für Gott. Seine Mutter hatte ihm nämlich auf die Frage „muoter, waz ist got?“ geantwortet, der sei das Hellste, was man sich vorstel­ len könne: „er ist noch liehter denne der tac.“ Parzival ist nicht mehr zu halten, er zieht aus, um Ritter am Artushof zu werden. Als letzten verzweifelten Schutz zieht ihm seine Mutter ein Narrengewand – „tôren klei- der“ – statt einer Rüstung an und setzt ihn auf einen schlechten Gaul. Zum Abschied gibt sie ihm Ratschlä­ ge, unter anderem, wie er sich Frauen gegenüber ver­ halten soll: Mein Sohn, ich geb dir noch den Rat: kannst du bei einer lieben Frau die Neigung und den Ring gewinnen, tu’s! Es macht dir Schweres leicht. Fackel nicht und küsse sie, nimm sie fest in deine Arme – wenn sie keusch, gesittet ist, bringt das Glück und Hochgefühl! Was der Tor Parzival aus den Ratschlägen macht Mit Parzivals Auszug beginnt eine ganze Kette von Un­ glücksfällen, ohne dass Parzival sich seiner Schuld be­ wusst wird. Der Abschiedsschmerz tötet seine Mutter. Und gleich am nächsten Tag dringt Parzival in ein Zelt ein. Drinnen schläft eine Frau. Es ist Jeschute, die Ge­ mahlin des Ritters Orilus. Der Rat der Mutter, „Neigung und Ring der Frau zu gewinnen“ , also ihre Liebe zu er­ ringen und sie zur Ehe zu führen, missdeutet Parzival als Aufforderung zur Gewalt. Sie lag in tiefem Schlaf und zeigte die Embleme der Liebe: leuchtend rote Lippen – Herzensnot verliebter Ritter! […] 2 4 6 8 2 4 Darstellung des Wolfram von Eschenbach im Codex Manesse, Universitätsbibliothek Heidelberg, frühes 14. Jh. Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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