Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

257 Naturalismus (1885–1900) 3 „Der Erste, der auf Sonne Wonne reimte und auf Brust Lust, war ein Genie; der Tausendste ein Kretin.“ Arno Holz: „Phantasus“ (1898/99) Die Revolution der Lyrik Wie muss man vorgehen, um eine „Revolution der Ly­ rik“ zu erreichen, wie sie Arno Holz in der gleichnami­ gen Schrift von 1899 fordert? Die Antwort von Holz: Man muss die bisherigen Formvorschriften der Lyrik, das heißt Reim, Strophe, Versmaß, abschaffen. Wozu noch der Reim? Der Erste, der – vor Jahrhun- derten! – auf Sonne Wonne reimte, auf Herz Schmerz und auf Brust Lust, war ein Genie; der Tausendste, vorausgesetzt, dass ihn diese Folge nicht bereits genierte, ein Kretin 1 . Brauche ich denselben Reim, den vor mir schon ein anderer gebraucht hat, so streife ich in neun Fällen von zehn denselben Gedanken. […] Und man soll mir die Reime nennen, die in unserer Sprache noch nicht gebraucht sind! […] Es gehört wirklich kaum „Übung“ dazu: hört man heute ein erstes Reimwort, so weiß man in den weitaus meisten Fällen mit tödlicher Sicherheit auch bereits das zweite. […] Holz’ Antwort auf die „alte“ Lyrik: die „Phantasus“-Gedichte Genaueste Beobachtungen kennzeichnen die Gedich­ te von Arno Holz. Sein „Sekundenstil“ registriert die kleinsten Bewegungen, Geräusche und optischen Ein­ drücke wie in Zeitlupe. Holz: „Die alte Kunst hat von dem fallenden Blatt weiter nichts zu melden gewusst, als dass es im Wirbel sich drehend zu Boden sinkt. Die neue Kunst schildert diesen Vorgang von Sekunde zu Sekunde; sie schildert, wie das Blatt jetzt auf dieser Seite vom Licht beglänzt, rötlich aufleuchtet, auf der anderen Seite schattengrau erscheint, in der nächsten Sekunde ist die Sache umgekehrt; wenn das Blatt erst senkrecht fällt, dann zur Seite getrieben wird, dann wieder lotrecht sinkt: Wiedergabe jeden Lauts, jeden Hauchs, jeder Pause – das ist es, worauf die neue Tech­ nik abzielt.“ Die „Phantasus“-Gedichte beschäftigen Holz sein ganzes Leben und umfassen schließlich 1.600 Seiten. Held des Zyklus ist ein in seiner Berliner Dachkammer Hunger leidender Dichter, der in Erinne­ rung und Wahrnehmungen noch einmal seine Jugend erlebt. Rote Dächer! Aus den Schornsteinen, hier und da, Rauch, oben, hoch in sonniger Luft, ab und zu, Tauben. Es ist Nachmittag. Aus Mohdrickers Garten her gackert eine Henne, die ganze Stadt riecht nach Kaffee. Ich bin ein kleiner, achtjähriger Junge und liege, das Kinn in beide Fäuste, platt auf dem Bauch und kucke durch die Bodenluke. Unter mir, steil, der Hof, hinter mir, weggeworfen, ein Buch. Franz Hoffmann. Die Sclavenjäger. Wie still das ist! Nur drüben in Knorrs Regenrinne zwei Spatzen, die sich um einen Strohhalm zanken, ein Mann, der sägt, und dazwischen, deutlich von der Kirche her, in kurzen Pausen, regelmäßig, hämmernd, der Kupferschmied Thiel. Wenn ich unten runtersehe, sehe ich grade auf Mutters Blumenbrett: ein Topf Goldlack, zwei Töpfe Levkojen, eine Geranie und mittendrin, zierlich in einem Cigarrenkistchen, ein Hümpelchen Reseda 1 . Wie das riecht? Bis zu mir rauf! Und die Farben! Jetzt! Wie der Wind drüber weht! Die wunder, wunderschönen Farben! Ich schließe die Augen. Ich sehe sie noch immer. 2 4 6 8 1 Dummkopf 10 12 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 1 Goldlack, Levkoje, Geranie, Reseda: beliebte Garten- und Schnittblumen 26 28 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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