Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

255 Naturalismus (1885–1900) Er liest, schülerhaft buchstabierend, schlecht betonend, aber mit unverkennbar starkem Gefühl. Alles klingt he- raus: Verzweiflung, Schmerz, Wut, Hass, Rachedurst. Hier im Ort ist ein Gericht, noch schlimmer als die Vehmen 1 wo man nicht erst ein Urteil spricht, das Leben schnell zu nehmen. Hier wird der Mensch langsam gequält, hier ist die Folterkammer, hier werden Seufzer viel gezählt als Zeugen von dem Jammer. Die Herrn Dreißiger die Henker sind, die Diener ihre Schergen, davon ein jeder tapfer schind’t, anstatt was zu verbergen. Ihr Schurken all, ihr Satansbrut … Ihr höllischen Kujone 2 , ihr fresst der Armen Hab und Gut, und Fluch wird euch zum Lohne. Hier hilft kein Bitten und kein Flehn, umsonst ist alles Klagen, „Gefällt’s euch nicht, so könnt ihr gehen am Hungertuche nagen 3 .“ Nun denke man sich diese Not und Elend dieser Armen, zu Haus oft keinen Bissen Brot, ist das nicht zum Erbarmen? Erbarmen, ha! ein schön Gefühl, euch Kannibalen fremde, ein jedes kennt schon euer Ziel, ’s ist der Armen Haut und Hemde. Der alte Baumert springt auf, hingerissen zu deliranter 4 Raserei : Haut und Hemde. All’s richtig, ’s is der Armut Haut und Hemde. Hier steh ich, Robert Baumert, Webermeister von Kaschbach […]. Ich bin ein braver Mensch gewest mei lebelang, und nu seht mich an! Was hab ich davon? Wie seh ich aus? Was hab’n se aus mir gemach? Hier wird der Mensch langsam gequält. Er reckt seine Arme hin. Dahier, greift amal an, Haut und Knochen. Ihr Schurken all, ihr Satans- brut! […] Ansorge […] erhebt sich, am ganzen Leibe zitternd vor Wut, stammelt hervor : Und das muß anderscher wern, sprech ich, jetzt uf der Stelle. Mir leiden’s nimehr, mag kommen, was will. Der Aufstand Es kommt zum Aufruhr, die Villa des Fabrikanten Drei­ ßiger, dominiert von einem „Geldschrank“ und einem „Gewehrschrank“ , wird besetzt. Dann beschließen die Weber die Fabriken zu stürmen, denn die mechani­ schen Webstühle nehmen ihnen ihre Arbeit weg: „Das ganze Elend kommt von a Fabriken“ , schreit einer. Der Webertrupp wächst, bald sind es 1500. Besonders kämpferisch sind die Frauen, sie leiden nicht nur für sich, sondern auch wegen ihrer Kinder. Dem alten We­ ber Hilse, der als einziger gegen den Aufstand ist, den er für „Satansarbeit“ hält, entgegnet seine Schwieger­ tochter: Luise , masslos: Mit Euren bigotten 5 Räden … dad’rvon da is mir o noch nich amal a Kind satt gewor’n. Derwegen ha’n se gelegen alle vier in Unflat und Lumpen. Ich hab mehr geflennt wie Oden 6 geholt von dem Augenblicke an, wo aso a Hiperle 7 uf de Welt kam, bis d’r Tod und erbarmte sich drieber. Ihr habt Euch an Teiwel gescheert. Ihr habt gebet’t und gesungen, und ich hab m’r de Fieße bluttich gelaufen nach eenn eenzichten Neegl 8 Puttermilch. […] Was hat so a Kindl verbrochen, hä? und muß so a elendigliches Ende nehmen – und drieben bei Dittrichen, da wern se in Wein gebad’t und mit Milch gewaschen. Nee, nee: wenn’s hie losgeht – ni zehn Pferde soll’n mich zurickehalten. […] Euch is nich zu helfen. Lappärsche seid ihr. Haderlumpe, aber keene Manne. Kerle, die dreimal „scheen Dank“ sagen fer ’ne Tracht Priegel. Euch haben se de Adern so leer gemacht, daß ihr ni amal mehr kennt rot anlaufen im Gesichte. Inzwischen ist schon das Militär angerückt und schlägt den Aufstand blutig nieder. Ausgerechnet der alte Hil­ se wird von einer Kugel tödlich getroffen. Das Drama endet ohne Perspektive auf Änderung. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 1 Vehme: Femegericht: heimliche, nicht überprüfbare Gerichte des späten Mittelalters;  2 Schurken;  3 Am Hungertuch nagen: „extremen Hunger leiden“; entstellt aus: am Hungertuch nähen. In der Fastenzeit wurde in den Kirchen der Altar mit dem Fastentuch („Hungertuch“) verhüllt.  4 delirant sein: außer sich sein;  5 frömmelnd;  6 Atem;  7 schwächliches Kind;  8 kleiner Krug 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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