Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

252 Naturalismus (1885–1900) Fort mit der „Backfisch-Literatur“ und „Altweiber­ kritik“ Geschätzt werden von den Naturalisten der junge Goethe, die Literatur des Jungen Deutschland und Büchner. Sich selbst bezeichnen sie auch als „jüngere Stürmer und Dränger“, „Jüngstes Deutschland“ und „Moderne“. Romantik und Biedermeier, vor allem aber die seichte Unterhaltungsliteratur der Zeit sind die Zielscheiben der naturalistischen Kritik. Der Herausge­ ber der Literaturzeitschrift „Die Gesellschaft“ formu­ liert in Anspielung auf die bevorzugte Lektüre von Ge­ schichten in Familienzeitschriften seine Kritik an Frau­ en- und Teenagerlesestoff („Backfischliteratur“) so: „Unsere ,Gesellschaft‘ bezweckt zunächst die Emanzi- pation der […] Literatur […] von der Tyrannei der ,hö- heren Töchter‘ und der ,alten Weiber beiderlei Ge- schlechts‘. […] Fort, ruft unsere ,Gesellschaft‘, mit der geheiligten Backfisch-Literatur, mit der angestaunten phrasenseligen Altweiber-Kritik […]. Eine neue Sprache und der „passive Held“ Auch die literarische Sprache musste sich der getreuen Darstellung der Wirklichkeit anpassen. Dies zeigt sich besonders im Drama. Abgelehnt wurden „unwahre“ Formen wie Monolog und Vers. Umgangssprache und Dialekt zogen in die Literatur ein mit ihren Ungenauig­ keiten, Wiederholungen, Satzabbrüchen, ihrem Ge­ stammel, ihren grammatischen und stilistischen Feh­ lern. Am Durchschnittsmenschen und an den Rändern der Gesellschaft war für die Naturalisten der Mensch als Produkt des Milieus und Gefangener der gesell­ schaftlichen Verhältnisse am besten erkennbar. Der tra­ ditionelle Held der klassischen Literatur wurde deshalb vom so genannten passiven „Helden“, unentschlosse­ nen, schwankenden Typen, abgelöst, wie dies exempla­ risch die Novelle „Bahnwärter Thiel“ von Gerhart Hauptmann (1861–1946) (1) zeigt. Eine ganze Gruppe von Menschen als „Helden“ bringt erstmals Haupt­ manns soziales Drama „Die Weber“ auf die Bühne (2) . Neue Formen auch in der Lyrik In der Lyrik sollten weder Reim noch Strophen noch ein nach Regeln fixiertes Metrum verwendet werden. Ein vom Inhalt des Gedichts bestimmter „notwendi­ ger“ Rhythmus sollte dem Gedicht die Form geben. Pathos, Sehnsucht, Gefühlsromantik waren als The­ men verboten. Den nachhaltigsten Versuch einer neu­ en Lyrik unternahm Arno Holz (1863–1929) in den „Phantasus“ -Gedichten (3) . Politische Attacken gegen die Dichter Trotz aller Sympathie für soziale Anliegen verstanden sich die Naturalisten nicht als politische Bewegung mit konkreten Zielen und Strategien. Ihrer Meinung nach hätte dies die Freiheit der Kunst eingeschränkt. Es gehöre zu den Aufgaben der Dichtung, alle bedeu- tungsvollen und nach Bedeutung ringenden Gewalten des gegenwärtigen Lebens in ihren Licht- und Schat- tenseiten poetisch zu gestalten […]. Demnach sind so- ziale, nationale, religiös-philosophische und literarische Kämpfe spezifische Hauptelemente der gegenwärtigen Dichtung, ohne dass sich dieselbe tendenziös dem Dienste von Parteien und Tagesströmungen hingibt. Kritik aus allen politischen Richtungen war die Folge dieser Haltung. Parteien wie den Sozialisten waren die Naturalisten zu wenig engagiert, konservativen Krei­ sen wie Bürgertum, Adel und Herrscherhaus zu offen­ siv. Obwohl es offiziell in Deutschland seit 1874 keine Zensur mehr gab, mussten öffentliche Theaterauffüh­ rungen polizeilich genehmigt werden. Geschlossene Vorstellungen fielen jedoch nicht in den Kontrollbe­ reich der Polizei. Deshalb wurden private Theaterver­ eine gegründet. Die bedeutendste private Bühne war die „Freie Bühne“ in Berlin, neben München das Zen­ trum des Naturalismus. Vor allem auf diesen privaten Bühnen wurden zunächst die naturalistischen Dramen von Gerhart Hauptmann, Max Halbe, Arno Holz und Johannes Schlaf sowie die Dramen Ibsens aufgeführt. Bestimmen Sie die Vorbilder der Literatur des Naturalismus, seine literarischen Zielscheiben, die literarische Neudefinition des Begriffs „Held“, die schwierige politische Situation und die Theateraufführungsproblematik der naturalistischen Autoren/Autorinnen. Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus - Nur zu Prüfzwecken – Eigentu des Verlags öbv

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