Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

245 Poetischer Realismus (1850–1900) nem ungeheuren Schutthaufen, und hinter demselben war ein kohlfinsteres Loch in den Berg hinein. […] „Pate Jochem“, sagte ich leise, „hört Ihr nicht so ein Brummen in der Erde?“ „Ja freilich, Bub“, entgegnete er, „es donnert was! Es ist ein Erdbeben.“ Da: Auf ei- ner eisernen Straße heran kam ein kohlschwarzes Wesen. Es schien anfangs stillzustehen, wurde aber immer größer und nahte mit mächtigem Schnauben und Pfustern und stieß aus dem Rachen gewaltigen Dampf aus. […] Da hub der Pate die beiden Hände empor und rief mit verzweifelter Stimme: „Jessas, Jes- sas, jetzt fahren sie richtig ins Loch!“ […]. Er wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Angesicht und starrte in den Tunnel. Dann sah er mich an und frag- te: „Hast du‘s auch gesehen, Bub?“ „Ich hab‘s auch ge- sehen.“ „Nachher kann’s keine Blenderei gewesen sein“, murmelte der Jochem. […] Als wir nach Maria Schutz kamen, war es schon dunkel. […] Ich konnte unter der Last der Eindrücke und unter der Stim- mung des Fremdseins kein Auge schließen, vermute- te jedoch, dass der Pate bereits schlummere; da tat dieser plötzlich den Mund auf und sagte: „Schlafst schon, Bub?“ „Nein“, antwortete ich. „Du“, sagte er, „mich reitet der Teufel! […] Was meinst, Bübel, weil wir schon so nah dabei sind, probieren wir’s?“ […] „Da werden sie einmal schauen, wenn wir heimkom- men und sagen, dass wir auf dem Dampfwagen ge- fahren sind!“ Ich war gleich dabei. „Aber eine Sünd- haftigkeit ist’s!“ murmelte er, „na, ’leicht wird’s mor- gen besser.“ Am anderen Tage gingen wir beichten und kommu- nizieren und rutschten auf den Knien um den Altar herum. Aber als wir heimwärts lenkten, da meinte der Pate nur, er wolle sich gar nichts vornehmen, er wolle nur den Semmering-Bahnhof sehen. Da sahen wir das Loch auf der andern Seite. War auch kohlfins- ter. – Ein Zug von Wien war angezeigt. Mein Pate un- terhandelte mit dem Bahnbeamten, er wolle zweimal sechs Kreuzer geben, und gleich hinter dem Berg, wo das Loch aufhört, wollten wir wieder absteigen. „Gleich hinter dem Berg, wo das Loch aufhört, hält der Zug nicht“, sagte der Bahnbeamte lachend. „Aber wenn wir absteigen wollen!“ meinte der Jochem. „Ihr müsst bis Spital fahren. Ist für zwei Personen zwei- unddreißig Kreuzer.“ […] Der Pate zahlte; ich musste zwei gute Kreuzer beisteuern. Mittlerweile kroch aus dem nächsten, unteren Tunnel der Zug hervor. Es zischte und spie und ächzte – da stand es still. Wir wären nicht zum Einsteigen gekommen; da schupfte der Schaffner den Paten in einen Waggon und mich nach. In demselben Augenblick wurde der Zug abge- läutet. […] Draußen in der Nacht rauschte und toste es, als wären wir von gewaltigen Wasserfällen umge- ben, und ein ums andere Mal hallten schauerliche Pfiffe. Wir reisten unter der Erde. Der Pate hielt die Hände auf dem Schoß gefaltet und hauchte: „In Got- tes Namen. Warum bin ich der dreidoppelte Narr ge- wesen.“ Zehn Vaterunser lang mochten wir so begra- ben gewesen sein, da lichtete es sich wieder, draußen flog die Mauer, flogen die Telegraphenstangen und die Bäume, und wir fuhren im grünen Tal. Mein Pate stieß mich an der Seite: „Du Bub – jetzt fangt’s mir an zu gefallen. Richtig wahr, der Dampf- wagen ist was Schönes! Jegerl und jerum, da ist ja schon Spital! Und wir sind erst eine Viertelstunde ge- fahren! Du, da haben wir unser Geld noch nicht ab- gesessen. Ich denk, Bub, wir bleiben noch sitzen.“ Mir war’s recht. […] „Mürzzuschlag!“ rief der Schaff- ner. Der Wagen stand; wir schwindelten zur Tür hi- naus. Der Türsteher nahm uns die Papierschnitzel ab, die wir beim Einsteigen bekommen hatten, und ver- trat uns den Ausgang. „He, Vetter!“ rief er, „diese Karten galten nur bis Spital. Da heißt’s nachzahlen, und zwar das Doppelte für zwei Personen; macht ei- nen Gulden sechs Kreuzer!“ Ich starrte meinen Paten an, mein Pate mich. „Bub“, sagte dieser endlich mit sehr umflorter Stimme, „hast du ein Geld bei dir?“ „Ich hab kein Geld bei mir“, schluchzte ich. „Ich hab auch keins mehr“, murmelte der Jochem. Wir wurden in eine Kanzlei geschoben, dort mussten wir unsere Taschen umkehren. Ein blaues Sacktuch, das für uns beide war und das die Herren nicht an- rührten, ein hart Rindlein Brot, eine rußige Tabaks- pfeife, ein Taschenfeitel, der Beichtzettel von Maria Schutz und der lederne Geldbeutel endlich, in dem sich nichts befand als ein geweihtes Messing-Amu- lettchen, das der Pate stets mit sich trug im festen Glauben, dass sein Geld nicht ganz ausgehe, solang er das geweihte Ding im Sacke habe. Wir durften unsere Habseligkeiten wieder einstecken, wurden aber stun- denlang auf dem Bahnhof zurückbehalten und muss- ten mehrere Verhöre bestehen. Endlich, als schon der Tag zur Neige ging, wurden wir entlassen, um nun den Weg über Berg und Tal in stockfinsterer Nacht zurückzulegen. Als wir durch den Ausgang des Bahn- hofs schlichen, murmelte mein Pate: „Beim Dampf- wagen da – ’s ist doch der Teufel dabei!“ 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 105 110 115 120 125 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentu des Verlags öbv

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