Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
241 Poetischer Realismus (1850–1900) Er steigt in lichtem Strahle, Der unerschöpflich ist, Und plätschert in eine Schale, Die golden wallend überfließt. Das Wasser flutet nieder In zweiter Schale Mitte, Und voll ist diese wieder, Es flutet in die dritte: Ein Geben und ein Nehmen Und alle bleiben reich. Und alle Stufen strömen Und scheinen unbewegt zugleich. Vieles lenkt hier vom Brunnen ab. Der Text beginnt wie ein romantisches Lied, man meint zunächst, es gehe um ein Erlebnisgedicht, nicht um einen Brunnen. In den nächsten Zeilen nimmt das Laubwerk die Fanta sie der Leser in Anspruch. Das kräftige Hinauszischen des Wassers ist nicht getroffen, das Verbum „plät schern“ stellt nicht gerade ein sanftes Überfließen dar und ist überhaupt kein besonders poetisches Verb. Es könnte ungewollte Assoziationen wecken, wie die an plätschernde Kinder in der Badewanne. Die zweite Strophe leiert außerdem deutlich. Meyer schreibt wie der um. Ein Jahr später hat das Gedicht folgende Form: Der Brunnen (1865) In einem römischen Garten Verborgen ist ein Bronne, Behütet von dem harten Geleucht der Mittagssonne, Er steigt in schlankem Strahle In dunkle Laubesnacht Und sinkt in eine Schale Und übergießt sie sacht. Die Wasser steigen nieder In zweiter Schale Mitte Und voll ist diese wieder, Sie fluten in die dritte: Ein Nehmen und ein Geben, Und alle bleiben reich, Und alle Fluten leben Und ruhen doch zugleich. Auch hier gilt: In der ersten Strophe ist wenig vom Brunnen die Rede. Zudem ist der Reim von „Bronne“ und „Sonne“ gewaltsam konstruiert, das Wort Brunnen kommt zwar in gewählter Sprache auch als „Bronnen“ vor, nicht aber als „Bronne“ , wie in der zweiten Zeile des Gedichts. Auch „Geleucht“ ist ein künstliches Wort, dessen Klang überdies wenig harmonisch ist. Dass ge rade das „harte“ Geleucht den Brunnen behüten soll, scheint sogar widersprüchlich. Der Wechsel von Zi schen und Wallen bleibt unausgedrückt. Die endgültige Fassung Erst 1882 ist der Dichter mit seinem Gedicht zufrieden, die lange Phase der Überarbeitungen und verworfe nen Versionen zu Ende: Der römische Brunnen Aufsteigt der Strahl, und fallend gießt Er voll der Marmorschale Rund, Die, sich verschleiernd, überfließt In einer zweiten Schale Grund; Die zweite gibt, sie wird zu reich, Der dritten wallend ihre Flut, Und jede nimmt und gibt zugleich Und strömt und ruht. Lesen Sie den Text laut! Sie erkennen dann deutlich, wie die Bewegung des Wassers in allen Phasen sprachlich nachgeformt ist. Das kräftige Hervorschie ßen an der Spitze wird nachgebildet durch das unge wöhnliche Vorziehen des Verbs vor das Subjekt. Das Zischen des Wasserstrahls findet sich in der Häufung der Zischlaute in der ersten Verszeile (steigt, Strahl, gießt) . Das sanftere Geräusch des von Becken zu Be cken überfließenden Wassers kommt durch die Häu fung von Lauten wie n und l zum Ausdruck (fallend, voll, Rund, wallend, Flut) . Das Stauen des Wassers in den Becken wird ausgedrückt durch eine Hemmung des Sprachflusses. Die Einschübe in Vers drei (sich ver- schleiernd) und Vers fünf (sie wird zu reich) verlangsa men das Sprechen. Der ständige Kreislauf des Wassers wird vermittelt durch die dreimalige Verbindung der vier Verben in den Versen sieben und acht. Ist das nicht nur subjektive Interpretation, persönli- cher Geschmack? Wäre nur Meyers Geschmack oder die persönliche Wertung einiger Leser Grund dafür, dass die letzte Fas sung höher eingeschätzt wird als die früheren, so wäre es nicht verständlich, dass genau diese Fassung in Gedichtsammlungen aufscheint. Das heißt, es gibt Kriterien, warum die Mehrzahl von uns ein Gedicht als gelungener beurteilt als ein anderes. Die Übereinstim mung von Form und Inhalt ist, wie Meyers „Brunnen 6 8 10 12 14 16 2 4 6 8 10 12 14 16 2 4 6 8 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum d s Verlags öbv
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