Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

240 Poetischer Realismus (1850–1900) Grenzenlos Dichten ist Arbeit Maler, Bildhauer, Architekten planen lange – und die Dichter? Dass Maler, Bildhauer, Musiker, Architekten lange Pla­ nungen anstellen, bevor sie ans Werk gehen können, ist allgemein bekannt. Doch wie ist das mit der Litera­ tur, insbesondere mit einem meist ja sehr kurzen Ge­ dicht? Entsteht das aus einem spontan-genialen Schöpfungsakt? Die Antwort: Auch Gedichte sind fast immer das Produkt einer harten Arbeit, die sich auch manchmal über Jahrzehnte hinziehen kann. Conrad Ferdinand Meyers Gedicht „Der römische Brunnen“, ein geradezu als vollkommen angesehenes Gedicht, zeigt das langwierige und mühsame Arbeiten am Text besonders schön. 24 Jahre Arbeit an einem Gedicht Im Jahre 1858 besucht Meyer Rom. In einem Park sieht er einen Brunnen und skizziert erste Entwürfe, um die­ sen Brunnen in einem Gedicht zu beschreiben. Zwölf Jahre vergehen, bis das Gedicht erstmals veröffent­ licht wird, weitere zwölf Jahre, bis es nach sechs ver­ schiedenen Fassungen 1882 seine endgültige Gestalt erhält. Faszination Brunnen Der Brunnen ist dreistufig, aus der Mitte des obersten Beckens schießt ein kräftiger Wasserstrahl. Der Strahl kulminiert, fällt dann in das oberste Becken zurück, rinnt von dort sanft überfließend in das Becken unter­ halb, dann in das dritte, unterste. Eine unsichtbare Pumpe drückt den Wasserstrahl im Brunneninneren wieder empor. Das Herauszischen des Wassers und das Rinnen von Becken zu Becken hören nie auf. Um einen solchen Brunnen geht es in C. F. Meyers Gedicht. Von Fassung zu Fassung Diesen Kreislauf, in dem die ständige Bewegung des Wassers gleichzeitig das Bild von Bewegung und Ruhe vermittelt, möchte Meyer darstellen. Die erste fertig­ gestellte Fassung lautet so: Rom: Springquell (1860) Es steigt der Quelle reicher Strahl Und sinkt in eine schlanke Schal’. Das dunkle Wasser überfließt Und sich in eine Muschel gießt. Es überströmt die Muschel dann Und füllt ein Marmorbecken an. Ein jedes nimmt und gibt zugleich Und allesammen bleiben reich, Und ob’s auf allen Stufen quillt, So bleibt die Ruhe doch im Bild. Der Literaturwissenschafter Hans-Dieter Gelfert, der sich der genauen Analyse von Meyers „Brunnenge­ dichten“ gewidmet hat, meint, „dieses Gedicht wäre wohl in keine Anthologie aufgenommen worden“ . Seine in „Was ist gute Literatur“ (2004) formulierte Begrün­ dung: Das Gedicht leiert, das Hervorschießen des Was­ sers kommt genauso wenig zum Ausdruck wie das sanfte Überfließen von Becken zu Becken. Außerdem meint der Leser einen fünfstufigen Brunnen vor sich zu haben, weil die fünf Reimpaare jeweils wie eine ab­ geschlossene Einheit wirken. Meyer schreibt um, 1864 lautet das Gedicht so: Der schöne Brunnen (1864) In einem römischen Garten Weiß ich einen schönen Bronnen, Von Laubwerk aller Arten Umwölbt und grün umsponnen. „Fontana dei Cavalli Marini“ im Garten der Villa Borghese, Rom, Foto, 2012 2 4 6 8 10 2 4 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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