Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
237 Poetischer Realismus (1850–1900) [Textausschnitt 2] Und nun Deine Zukunft, meine liebe Effi. Du wirst Dich auf Dich selbst stellen müssen und darfst dabei, soweit äußere Mittel mitsprechen, unserer Unterstüt- zung sicher sein. Du wirst am besten in Berlin leben (in einer großen Stadt vertut sich dergleichen am besten) und wirst da zu den vielen gehören, die sich um freie Luft und lichte Sonne gebracht haben. Du wirst einsam leben und, wenn Du das nicht willst, wahrscheinlich aus Deiner Sphäre herabsteigen müssen. Die Welt, in der Du gelebt hast, wird Dir verschlossen sein. Und was das Traurigste für uns und für Dich ist (auch für Dich, wie wir Dich zu kennen vermeinen) – auch das elterliche Haus wird Dir verschlossen sein: wir können Dir keinen stillen Platz […] anbieten, keine Zuflucht in unserem Hause, denn es hieße das, dies Haus von aller Welt abschließen, und das zu tun, sind wir entschieden nicht geneigt. Nicht weil wir zu sehr an der Welt hingen und ein Abschiednehmen von dem, was sich „Gesellschaft“ nennt, uns als etwas unbedingt Unerträgliches erschiene; nein, nicht deshalb, sondern einfach, weil wir Farbe bekennen und vor aller Welt, ich kann Dir das Wort nicht ersparen, unsere Verurteilung Deines Tuns, des Tuns unseres einzigen und von uns so sehr geliebten Kindes, aussprechen wollen […]. Das Wiedersehen mit der Tochter Effi lebt mit ihrer Bediensteten Roswitha in einer klei nen Wohnung in Berlin, erst nach vielen Interventio nen darf sie ihre inzwischen 10-jährige Tochter Annie erstmals auf Besuch einladen: [Textausschnitt 3] Und nun sage mir, Annie – denn heute haben wir uns ja bloß so mal wiedergesehen –, wirst du mich öfter besuchen?“ „O gewiss, wenn ich darf.“ „Wir können dann in dem Prinz-Albrechtschen Garten spazieren gehen.“ „O gewiss, wenn ich darf.“ „Oder wir gehen zu Schilling und essen Eis. Ananas- oder Vanilleeis; das aß ich immer am liebsten.“ „O gewiss, wenn ich darf.“ Und bei diesem dritten „wenn ich darf “ war das Maß voll; Effi sprang auf, und ein Blick, in dem es wie Empörung aufflammte, traf das Kind. „Ich glaube, es ist die höchste Zeit, Annie […]“. Und sie zog die Klingel. Roswitha, die schon im Nebenzimmer war, trat gleich ein. „Roswitha, gib Annie das Geleit bis drüben zur Kirche. Johanna wartet da. Hoffentlich hat sie sich nicht erkältet. Es sollte mir leidtun. Grüße Johanna.“ Und nun gingen beide. Kaum aber, dass Roswitha draußen die Tür ins Schloss gezogen hatte, so riss Effi, weil sie zu ersticken drohte, ihr Kleid auf und verfiel in ein krampfhaftes Lachen. „So also sieht ein Wiedersehen aus“, und dabei stürzte sie nach vorn, öffnete die Fensterflügel […] und sprach halblaut vor sich hin: „O du Gott im Himmel, vergib mir, was ich getan; ich war ein Kind … Aber nein, nein, ich war kein Kind, ich war alt genug, um zu wissen, was ich tat. Ich hab es auch gewusst, und ich will meine Schuld nicht kleiner machen … aber das ist zuviel. Denn das hier, mit dem Kind, das bist nicht du, Gott, der mich strafen will, das ist er, bloß er! Ich habe geglaubt, dass er ein edles Herz habe, und habe mich immer klein neben ihm gefühlt; aber jetzt weiß ich, dass er es ist, er ist klein. Und weil er klein ist, ist er grausam. Alles, was klein ist, ist grausam. Das hat er dem Kinde beigebracht […]: „O gewiss, wenn ich darf.“ Du brauchst nicht zu dürfen; ich will euch nicht mehr, ich hass euch, auch mein eigen Kind. Was zuviel ist, ist zuviel. Ein Streber war er, weiter nichts. – Ehre, Ehre, Ehre … und dann hat er den armen Kerl totgeschossen, den ich nicht einmal liebte und den ich vergessen hatte, weil ich ihn nicht liebte. Dummheit war alles, und nun Blut und Mord. Und ich schuld. Und nun schickt er mir das Kind, weil er einer Ministerin nichts abschlagen kann, und ehe er das Kind schickt, richtet er’s ab wie einen Papagei und bringt ihm die Phrase bei ,wenn ich darf ‘ …Mich ekelt, was ich getan; aber was mich noch mehr ekelt, das ist eure Tugend. Weg mit euch.“ […] Als Roswitha wiederkam, lag Effi am Boden, das Gesicht abgewandt, wie leblos. Effi kommt nach Hause Gegen den Willen der Mutter nimmt der Vater die tod kranke Effi schließlich doch auf, bald danach stirbt sie. Ursachenforschung wird von den Eltern nicht betrie ben, denn, wie der Vater meint, „das alles ist ein zu wei- tes Feld“ . Innstetten, der weiß, dass alles „einer Vorstel- lung, einem Begriff zuliebe“ geschehen ist, überlegt auszuwandern: „weg und hin unter lauter pechschwar- ze Kerle, die von Kultur und Ehre nichts wissen. Diese Glücklichen! Denn gerade das, dieser ganze Krims- krams ist doch an allem schuld.“ 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 2 4 6 8 10 12 14 6 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlag öbv
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