Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

234 Poetischer Realismus (1850–1900) geschwind mitten in seinem Schrecken und in seinen Tränen ihn an. Doch ermannte sich Sali, geweckt durch die Anstrengungen seines Vaters, ihn abzu- schütteln, und brachte ihn mit eindringlich bittenden Worten und fester Haltung endlich ganz von seinem Feinde weg. Beide alte Gesellen atmeten hoch auf und begannen jetzt wieder zu schelten und zu schreien, sich voneinander abwendend; ihre Kinder aber atmeten kaum und waren still wie der Tod, gaben sich aber im Wegwenden und Trennen, ungesehen von den Alten, schnell die Hände, welche vom Wasser und von den Fischen feucht und kühl waren. ■■ Untersuchen Sie, welche Parallelen zwischen Wetter und Väterkampf einerseits und dem Augenblick des Wiedersehens der Kinder andererseits bestehen. ■■ Erläutern Sie, mit welchen Vergleichen und Metaphern Keller das Romeo-und-Julia-Schicksal der beiden andeutet. Unmögliche Liebe Am nächsten Tag treffen einander Vrenchen und Sali. Doch ihre Liebesbegegnung im verwilderten Kornfeld ihrer Väter wird doppelt gestört. Der schwarze Geiger taucht auf. Seine Prophezeiung: „Ich kenne euch, ihr seid die Kinder derer, die mir den Boden hier gestohlen haben! Es freut mich zu sehen, wie gut ihr gefahren seid, und werde gewiss noch erleben, dass ihr vor mir den Weg alles Fleisches geht!“ Die zweite Störung: Vrenchens Vater erscheint. Er misshandelt Vrenchen, Sali schützt sie, sein Stein trifft Vrenchens Vater. Der bricht zusammen und ist von da ab geistig verwirrt, wird ins Siechenhaus abgeschoben. Für die Kinder ist die Liebe doppelt unmöglich geworden. Die Verlet­ zung von Vrenchens Vater lastet auf Sali, und es fehlt ihnen die materielle Grundlage für das Zusammenle­ ben. Möglich wäre es für Sali, Soldat zu werden, so wie viele Seldwyler, Vrenchen könnte als Dienstmädchen in eine Stadt, doch das wäre die Trennung. Anderer­ seits ist eine andere Lebensform als eine Ehe für sie, die von dem Gedanken geprägt sind, dass Glück und Leben auf Ehre und Besitz beruhen, unvorstellbar: „Sie mochten so gern fröhlich und glücklich sein, aber nur auf einem guten Grund und Boden, und dieser schien ihnen unerreichbar, während ihr wallendes Blut am liebsten gleich zusammengeströmt wäre.“ Lebkuchenhaus und Lebkuchenherz Sie wissen um ihre Chancenlosigkeit. Einmal nur mit­ einander glücklich sein, das wollen sie. Außerhalb Seldwylas ist Kirchweih, dort möchten sie hin. Sali ver­ kauft dafür seine Uhr, Vrenchen verkauft ihr Bett, sie leisten sich ein gutes Frühstück im Gasthaus. Sali kauft für Vrenchen Schuhe und ein Lebkuchenhaus, Vrenchen für Sali ein Lebkuchenherz und beide Ringe füreinander. Als sie am Abend tanzen, nicht auf dem Kirchfest, sondern im Treffpunkt der Außenseiter, dem „Paradiesgärtlein“, wo der schwarze Geiger zum Tanz aufspielt, fällt der Entschluss: Im heftigen Schmeicheln und Ringen begegneten sich ihre ringgeschmückten Hände und fassten sich fest, wie von selbst eine Trauung vollziehend, ohne den Befehl eines Willens. Salis Herz klopfte bald wie mit Hämmern, bald stand es still, er atmete schwer und sagte leise: „Es gibt eines für uns, Vrenchen, wir halten Hochzeit zu dieser Stunde und gehen dann aus der Welt – dort ist das tiefe Wasser – dort scheidet uns niemand mehr, und wir sind zusammen gewesen – ob kurz oder lang, das kann uns dann gleich sein. –“ Vrenchen sagte sogleich: „Sali – was du da sagst, habe ich schon lang bei mir gedacht und ausgemacht, nämlich dass wir sterben könnten und dann alles vorbei wäre –“. 28 30 32 34 36 38 40 Aufgabe 2 4 6 8 10 12 14 E. Würtenberger, Darstellung vom „Kampf auf der Brücke“ aus „Romeo und Julia auf dem Dorfe“, 1919 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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