Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
233 Poetischer Realismus (1850–1900) Das alte Romeo-und-Julia-Problem ist nach wie vor nicht aus der Welt geschafft. Zwei junge Leute lieben einander, sie gehören aber verschiedenen oder feind lich gesinnten Gruppen, Parteien, Völkern an. Die bei den gehen in den Tod, weil sie im Leben nicht zusam menkommen können. So ist es auch in Kellers Novelle. Zwei Väter auf dem Acker Sie sind gleich lang und knochig, gleich in ihren Gebär den, gleich schweigsam, gleich in ihrer Kleidung, nur die Zipfel ihrer Mützen zeigen in verschiedene Rich tungen. Manz und Marti, zwei Seldwyler Bauern, pflü gen ihre Äcker. Ein dritter Acker befindet sich dazwi schen. Auf ihm laden die beiden die Steine ihrer Äcker ab. Vor dem Nachhausegehen schneiden sie immer noch ein Stückchen vom Acker in der Mitte ab. Dieses Feld gehört keinem von ihresgleichen, das heißt kei nem Seldwyler Bauern. Er gehört, das wissen sie, dem „schwarzen Geiger“ , der in der Gegend herumzieht, zu Festen aufspielt. Doch der hat weder einen „Tauf- schein“ noch „das geringste Fetzchen Papier“ , das sein Eigentumsrecht beweisen könnte. Noch trennt der Acker des Geigers Manz von Marti, noch schneiden sie einig den Acker in der Mitte zusammen. Geliebt wird der Acker des Geigers mit seinen Steinen und wilden Blumen von den Kindern der beiden Bauern, Sali, dem Sohn des Manz, und Vrenchen, der Tochter des Marti. Er ist ihre Spielwiese. Versteigerung, Verletzung der Symmetrie, Abstieg Schließlich wird der mittlere Acker versteigert. Manz ist Bestbieter. Das Problem: Kurz vor der Versteigerung hat Marti ein Dreieck aus dem mittleren Acker heraus gepflügt. Das, was Jahrhunderte lang galt, ist verletzt: Ein Acker hat eine genaue Form zu haben, viereckig, heißt das, „ordentlich grade“ , „wie mit dem Richtscheit gezeichnet“ , ohne „ungehörige Einkrümmung“ . Da wür den die anderen Bauern ja lachen! Doch auf wessen Kosten geht die Begradigung? Jetzt, da kein mittlerer Acker Manz und Marti mehr trennt, sind sie zu unmit telbaren Gegnern geworden. Besitz und „Ehre“ heißt ihre Parole. Es kommt zum Prozess. Nach zehn Jahren des Prozessierens sind beide am Ende, „von Grund auf in Schulden“ . Unmittelbar betroffen sind die Kinder. Die Erwachsenen verbieten ihnen den Umgang mit einander. Jahrelang sehen sie einander nicht. Väterkampf und Wolkenriss Um überhaupt etwas zu essen zu haben, müssen die Väter, begleitet von Sali und Vrenchen, fischen. Am Bach, an einem Regentag, begegnen die Männer ein ander. Nur mehr als Tiere sehen sie einander: „Hund“, „Lumpenhund“, „Galgenhund“, „Kalb“ werfen sie sich an den Kopf, wie „ein Tiger“ schleichen sie den Bach entlang, finden einen Steg. Nach zehn Jahren sehen einander auch die Kinder wieder. Es fing an zu blitzen […], und schwere Regentropfen fielen, als die verwilderten Männer gleichzeitig auf die schmale, unter ihren Tritten schwankende Brücke stürzten, sich gegenseitig packten und die Fäuste in die vor Zorn und ausbrechendem Kummer bleichen zitternden Gesichter schlugen. […] Nach- dem sie ein oder zweimal geschlagen, hielten sie inne und rangen still zitternd miteinander […], und einer suchte den andern über das knackende Geländer ins Wasser zu werfen. Jetzt waren aber auch ihre Kinder nachgekommen und sahen den erbärmlichen Auftritt. Sali sprang eines Satzes heran, um seinem Vater […] zu helfen, dem gehassten Feinde den Garaus zu machen, der ohnehin der schwächere schien und eben zu unterliegen drohte. Aber auch Vrenchen sprang, alles wegwerfend, mit einem langen Aufschrei herzu und umklammerte ihren Vater, um ihn zu schützen, während sie ihn dadurch nur hinderte und beschwerte. […] Darüber waren die jungen Leute, sich mehr zwischen die Alten schiebend, in dichte Berührung gekommen, und in diesem Augenblicke erhellte ein Wolkenriss, der den grellen Abendschein durchließ, das nahe Gesicht des Mädchens, und Sali sah in dies ihm so wohlbekannte und doch soviel anders und schöner gewordene Gesicht. Vrenchen sah in diesem Augenblicke auch sein Erstaunen, und es lächelte ganz kurz und 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 Porträt von Gottfried Keller, nach einem Gemälde von Ludmilla Aussing, vor 1854 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum d s Verlags öbv
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=