Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

231 Poetischer Realismus (1850–1900) 3 „Ein Verhängnis, von keinem gewollt, von keinem verschuldet“ Peter Rosegger: „Die Entseelung des Arbeiters“ und „Volkswohlstand“ (1907) Gesellschaftliche Umwälzungen, nicht weit entfernt von Saars Steinklopfern Gleich „hinter“ dem Semmering liegt das steirische Mürztal. Dort und in den benachbarten Waldbergen wächst der Bauernbub Rosegger auf. Die kargen Ver­ hältnisse der Kindheit schildert er in „Waldheimat“ (1877). Auch heute noch trägt die Gegend diesen Na­ men. Rosegger gibt kein idyllisierendes Bild vom Bau­ ernleben, auch nicht von den vorindustriellen Herren der Gegend, den „Hammerherren“, von denen sich die dort Arbeitenden auch vorschreiben lassen müssen, dass sie sich ein Halstuch umbinden oder den Mund säubern sollten, wenn sie mit den „Herren“ sprechen wollten. Rosegger ist aber auch skeptisch gegenüber den Veränderungen durch Industrialisierung, den neu­ en Bedingungen, sich das „Brot“ sichern zu müssen, und hellsichtig gegenüber neuen sozialen Ungerech­ tigkeiten. In seinen Werken, unter denen besonders dem Roman „Jakob der Letzte“ (1888) große Bedeu­ tung zukommt, schildert der Realist Rosegger das, was er selbst erlebt und sieht: die Umwandlung von Hand­ werksbetrieben in große Fabriken, das Abwandern der Bauern. Gerade das Mürztal wurde für diese Industria­ lisierung exemplarisch. Basis waren die Erzvorkom­ men am Erzberg, Holz und Wasserkraft als Energie­ quelle. Die Landbevölkerung geriet in diese Umwäl­ zungen. Zwei Texte sollen Sie mit diesen Fragen aus der Sicht Roseggers bekanntmachen. Die Entseelung des Arbeiters Wer ein wenig in der Arbeiterfrage bewandert ist, weiß, dass mit der Entwicklung zum Industrialismus eine Erscheinung in die Welt der Arbeit eingezogen ist, die, von keinem gewollt und von keinem ver- schuldet, wie ein Verhängnis über die Menschheit hereingebrochen zu sein scheint und nun, als solle ein tragisches Schicksal sich auswirken, immer weitere Kreise zieht und ein Tätigkeitsgebiet nach dem anderen sich untertänig macht: wir meinen die Entseelung des Arbeitsprozesses. […] [Die Handwer- ker früher] schufen als frei schaltende und gestalten- de Menschen, […] sie schufen ein Ganzes, wie sie selbst als Ganzes, als Individuum, das heißt als ungeteilte Persönlichkeit, ihrer Arbeit gegenüber- standen. – Der „Segen“ unserer technischen Kul- turentwicklung hat das geändert. An die Stelle des lebenden und geliebten Gerätes ist eine tote Maschi- ne getreten, an Stelle der schaffenden Persönlichkeit ein Teilfunktionär, an die Stelle der lebendig wechsel- vollen Arbeit eine monotone Verrichtung, an die Stelle des in sich fertigen Produktes ein Teil des Ganzen, oder ein Teil des Teiles oder noch weniger. Die Seele schwingt nicht mehr mit, wenn die Räder surren, das Herz bleibt kalt, wenn auch das Stückgut sich formt, das Streben nach Selbstvervollkomm- nung hört auf, wo der Mechanismus arbeitet, der Ehrgeiz erstirbt, wo Massenabsatz kommandieren- de[r] Richtpunkt [ist] und wo der Einzelne in der Masse der Mitarbeiter verschwindet. Die Lust an der Arbeit schlägt in ihr Gegenteil um. Die Vervoll- kommnung des Geräts nimmt dem Menschen eine Arbeit nach der anderen „aus der Hand“, macht ihn überflüssiger, ersetzlicher, entbehrlicher […]. Welche Tragik in diesem „Fortschritt“! Erläutern Sie, welche Probleme der Arbeitswelt Rosegger anspricht und welchen Unterschied zwischen Handwerk und Industriearbeit er sieht. Volkswohlstand Je länger der so genannte Volkswohlstand dauert, je hässlicher wird das Land. Die Wälder werden abgeholzt, die Berge aufgeschürft, die Bäche abgelei- tet, verunreinigt. Die Wiesen werden mit Fabriken besetzt, die Lüfte mit Rauch erfüllt, die Menschen unruhig, unzufrieden, heimatlos gemacht. Und so fort. […] Dass die Armen nach so viel Geld trachten, um sich den anständigen Lebensunterhalt leisten zu können, das ist zu verstehen. Aber dass die Wohl­ habenden noch mehr haben wollen, obschon die Erfahrung überall lehrt, dass das „noch mehr“ das Leben nicht verschönert, sondern verelendet […]! Was bedeutet ein prachtvoller Palast, wenn er in einer Gegend steht, die kahl ist und voll schmutziger 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 Aufgabe 2 4 6 8 10 12 14 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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