Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
229 Poetischer Realismus (1850–1900) Eine Zugfahrt über den Semmering: ein Erlebnis Eine Zugfahrt über den Semmering ist auch heute noch mit dem Wechsel von Tunnels, Viadukten, Schluchten ein Landschaftserlebnis. Aufgrund ihres Wertes als Zeugnis einer technischen Meisterleistung des 19. Jahrhunderts wurde das Bauwerk auch 1998 von der UNESCO zum Weltkulturerbe der Menschheit erklärt. An eines wird man aber heute möglicherweise genauso wenig denken, wie es Ferdinand von Saar für seine Zeit annimmt: an die „Tausenden und Abertau- senden von Menschen, welche im Schweiße ihres Ange- sichts, allen Fährlichkeiten preisgegeben, Felsen ge- sprengt, Steinblöcke gewälzt, Abgründe überbrückt und so […] jene Verkehrsstraße geschaffen“ haben. Von „zweien solcher armen Menschen“ berichtet Saar. Die große Welttragödie im Kleinen Die Darstellung der Welt der Proletarier ist im Realis mus selten. Insofern ist Saars Novelle eine wichtige Ausnahme. Aber auch Saar ist, so wie alle Realisten, kein Revolutionär, kein Autor, der Aufruhr anzetteln will gegen ein System, das die einen zu Arbeitssklaven degradiert und andere durch deren Arbeit reich wer den lässt. Saar geht es nicht darum, das „harte Los die- ser Parias 1 der Gesellschaft, die unsere Dome und Pa- läste, unsere Unterrichtsanstalten und Kunstinstitute bauen, in grellen Farben zu schildern“ . Er will „zeigen, wie Leid und Lust jedes Menschenherz bewegen und dass sich überall im Kleinen abspielt die große Tragödie der Welt“. Einblicke in die Arbeitswelt um 1850 Die härteste und am schlechtesten bezahlte Arbeit beim Bau der Semmeringbahn machen die Steinklop fer. Sie zertrümmern Steinblöcke mit dem Hammer zu Schotter. Wer Steinklopfer wird, kann ein Mann be stimmen, der Aufseher. Auch Frauen müssen als Stein klopfer arbeiten. Der Aufseher bestimmt nahezu alles. Er bestimmt, was die Arbeiter zu essen bekommen, denn er macht die Küche. Die Arbeiter haben ihm das Essen zu bezahlen. Nicht selten kauft er verdorbene Nahrungsmittel ein. Auch alles, was die Arbeiter sonst zum Leben brauchen, müssen sie bei ihm zu horren den Preisen kaufen. Die Berechtigung dafür hat er von der „Bauleitung“ . Der Aufseher bestimmt auch die Ar beitsleistung und kann Arbeiter deshalb entlassen: „Wenn du nicht täglich deine zwei Fuhren Schotter zu- wege bringst, so jag ich dich fort!“ Die Auseinandersetzung Einer der Steinklopfer ist Georg, fieberkrank aus der Armee entlassen, von seiner Heimatgemeinde kurzzei tig erhalten, dann zum Steineklopfen befohlen. Eine andere Steinklopferin ist Tertschka, die Stieftochter des Aufsehers, ihm als Frau doppelt ausgeliefert, so zial abhängig und sexuell bedrängt. Georg und Tertschka finden aneinander Halt, wollen die Stein klopferpartie verlassen. In der Monarchie wird überall an der Eisenbahn gebaut. Vielleicht ist woanders ein weniger gewalttätiger Aufseher. Nach „Krain“ möchten sie gehen. Der Aufseher erfährt davon, sperrt Tertsch ka in seiner Hütte ein. Georg will sie herausholen, die Tür zur Kammer aufbrechen. „Was? Die Tür willst du mir einschlagen? Du Räuber! Du Dieb! Hinaus! Sonst lass ich die Gendarmen holen!“ „Lasst sie holen“, rief Georg flammend. „Dann wird sich zeigen, wer im Recht ist! Dann wird sich zeigen, warum Ihr die Tertschka eingeschlossen habt! Dann wird zutage kommen, wie Ihr sie von klein auf misshandelt, wie Ihr der Armen schändlich nachgestellt und ihr den sauer verdienten Taglohn und das Erbteil der Mutter, deren Tod Euch auf dem Gewissen brennt, vorenthalten habt! Dann wird zutage kommen, wie Ihr hier oben mit den Schwa- chen und Wehrlosen umgeht und wie Ihr Euch mästet mit dem Schweiß und Blut der Arbeiter, die man Euch anvertraut!“ – Georg hielt unwillkürlich inne. Die Wucht und die Wahrheit dieser Anklagen hatten bei dem Aufseher das Maß zu Rande und ihn selbst um alle Besinnung gebracht. Sein Antlitz war bläulich fahl geworden; aufbrüllend wie ein verwun- deter Stier, schäumenden Mundes, die Augen weit vorgequollen – so stürzte er sich mit hoch geschwun- genem Messer auf Georg. Dieser aber hatte den Hammer erfasst und schwang ihn gegen den Angreifer. Ein dumpfer Schlag erdröhnte; der Aufseher, vor die Brust getroffen, wankte – und taumelte, während sich ein Schwall dunklen Blutes aus seinem Munde ergoss, röchelnd zu Boden. Menschliche Richter Das Militärgericht in Wiener Neustadt erkennt auf Tot schlag in Notwehr. Deshalb das milde Urteil: ein Jahr schwerer Kerker. Der Richter ist zudem beeindruckt von der standhaften Liebe der beiden. Liebe, so meint er, „wäre zwar in den Romanen hirnverbrannter Poeten, niemals aber im wirklichen Leben zu finden“ . Deshalb möchte er diese Ausnahmeliebe unterstützen. Er ver1 Ausgestoßenen 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwe ken – Eigentu des Verlags öbv
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