Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
227 Poetischer Realismus (1850–1900) „nackter“ Realismus gehören für Fontane in die Litera tur. „Vor allen Dingen verstehen wir nicht darunter das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten. […]“ „Verklärung“ soll Abstand schaffen zwischen Realität und Dichtung Damit sich die Dichtung von bloßer Berichterstattung unterscheidet, soll sie, so fordern es die Realisten, die Wirklichkeit „verklären“. Damit ist keine Verschleierung der Realität gemeint. Aber „Verklärung“ garantiert, dass die von der Dichtung geschaffene Realität Abstand von der tatsächlichen Wirklichkeit hat und damit Dichtung und Kunst bleibt. Dass die Realisten tatsächlich keine Realitätsverschleierung betreiben, zeigen ihre Themen: die gesellschaftliche Situation der Frau, der Wider spruch zwischen bürgerlicher Moral und tatsächlichem Verhalten, das Ausgeliefertsein an die sozialen Ver änderungen, Armut und Einsamkeit oder der Verlust von Orientierung durch das Zurückdrängen gewohnter Wertmaßstäbe wie Religion und Sitte. Die Realisten ver zichten aber darauf, für die dargestellten Fragen Lösun gen anzubieten oder sich für eine politische Neuorien tierung einzusetzen. Deshalb bleibt auch die Welt der Proletarier im Realismus weitgehend ausgeklammert. Wenn die Lage der Arbeiter/Arbeiterinnen dargestellt wird, dann als Einzelschicksal, nicht als Situation einer ganzen Bevölkerungsschicht. Drei Zentren des poetischen Realismus: Österreich, Schweiz, Norddeutschland Der österreichische Realismus: Saar, Ebner-Eschen- bach, Rosegger, Anzengruber Die bedeutendsten Werke des österreichischen Realis mus gehören zur Erzählprosa. Hauptmotiv sind die Konflikte zwischen der Gesellschaft und den einzelnen Menschen. Wenn Personen der Weg in ein geglücktes Leben gelingt, dann unter vielen Opfern. Doch meist bestimmen andere über Hoffnungen, Wünsche und Lebensplanung. Desillusionierung, Flucht vor der Welt, Scheitern charakterisieren viele Figuren. Die kurze Form von Novelle, Erzählung und Aufsatz wird auch begünstigt durch die starke Erweiterung des Zeitun gen- und Zeitschriftenmarktes. Mit Hilfe dieses Mark tes können erstmals in größerer Zahl „freie Schriftstel ler“ arbeiten, die nicht mehr von Mäzenen abhängig sind, sondern von vertraglich festgelegten Honoraren leben. Als Beispiele für den österreichischen Realismus finden Sie „Die Steinklopfer“ aus den „Novellen aus Ös terreich“ von Ferdinand von Saar (1833–1906) (1) , „Krambambuli“ aus den „Dorf- und Schlossgeschich ten“ von Marie von Ebner-Eschenbach (1830–1916) (2) und die Aufsätze „Die Entseelung des Arbeiters“ und „Volkswohlstand“ von Peter Rosegger (1843–1918) aus seiner Monatszeitschrift „Heimgarten“ (3) . Der wich tigste realistische Dramatiker Österreichs ist der lange wenig geschätzte Ludwig Anzengruber (1839–89), des sen Dramen neuerdings wegen ihrer Thematik und psychologischen Analyse zunehmend Interesse finden. Anzengrubers Stücke bringen die dramatischen Ver änderungen im Bauernstand ebenso zur Sprache wie Kritik an heuchlerischer Scheinreligiosität und der un bedingten Gültigkeit des Gebots der Liebe der Kinder zu ihren Eltern („Das vierte Gebot“). Die Schweizer Realisten: Keller und C. F. Meyer Einen Gipfel erreichen realistische Erzählung und No velle mit den „Züricher Novellen“ und der Sammlung „Die Leute von Seldwyla“ (4) von Gottfried Keller (1819–90). Auch der bedeutendste Bildungsroman der Epoche, „Der grüne Heinrich“ (1854/55), stammt von Keller. Er stellt einen jungen Mann vor, der in die Stadt zieht, um Maler zu werden, dort völlig haltlos wird, wieder heimkehrt, aber zu spät kommt, um seine Mut ter noch lebend anzutreffen. Aus Schuldgefühl und Erschütterung stirbt er kurz darauf. In einer zweiten Fassung des Romans allerdings lässt Keller den Sohn noch rechtzeitig zurückkommen, eine treue Frau fin den und selbst für die Gemeinschaft tätig werden. Der zweite bedeutende Novellist des Schweizer Realis mus, Conrad Ferdinand Meyer (1825–98), gilt auch als „typischer“ Lyriker der Epoche. Die realistische Lyrik hält nichts von politisch engagierten Gedichten. Das charakteristisch Neue dieser Lyrik sind die ersten „Dinggedichte“ der Literatur. Sie stellen Objekte und Gegenstände dar, die genau beobachtet und dann als Symbol für Grundtatsachen des Lebens, wie Vergäng lichkeit, Glück, Ruhe, Gelassenheit interpretiert wer den (siehe Grenzenlos ). Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus - Nur zu Prüfzwecken – Eige tum d s Verlags öbv
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