Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

214 Biedermeier/Vormärz (1820–1848) 2 Gegen die „Holzpuppen“ auf der Bühne Georg Büchner: „Woyzeck“ (1836) Menschen von Fleisch und Blut, keine Marionetten 1835 muss der von der Polizei wegen Veröffentlichung der kritischen Schrift „Der Hessische Landbote“ steck­ brieflich gesuchte Georg Büchner ins Exil. Dort, in Straß­ burg, schreibt er die Erzählung „Lenz“. Sie behandelt das Schicksal des Sturm-und-Drang-Dichters Jakob Mi­ chael Reinhold Lenz, Freund Goethes in Straßburg. Lenz hatte nach Goethes Abschied von Friederike Brion ver­ sucht, dessen Stelle einzunehmen, war jedoch damit ebenso gescheitert wie mit dem Versuch, sich in Wei­ mar Goethes Schwester zu nähern. Goethe brach den Kontakt zu Lenz ab, Lenz wurde aus Weimar ausgewie­ sen. Bald zeigten sich bei Lenz Anzeichen der Schizo­ phrenie, der Dichter fand vorübergehend Aufenthalt bei einem Pfarrer in der Nähe von Straßburg. Zwischen Lenz und einem ebenfalls im Pfarrhaus anwesenden Schriftsteller erfindet Büchner ein Gespräch über die Literatur. Lenz ist Büchners Sprachrohr, er kritisiert die Dichtung, die idealistische Menschen darstellen will, aber nur „Holzpuppen“ fabriziert. Der Literatur dürfe „keiner zu gering, keiner zu hässlich sein“, um dargestellt zu werden. Nicht „Marionetten, aber […] Menschen von Fleisch und Blut, deren Leiden und Freude mich mitemp- finden macht“ , will Büchner auf die Bühne bringen. Eine idealistische Literatur missbrauche die Menschen zu dichterischen Zwecken und sei es nur, indem sie in Ver­ sen reden müssen, anstatt die Gewalt darzustellen, die ihnen in der Realität angetan wird. Woyzeck: ein Mensch aus Fleisch und Blut „Am 21. Juni des Jahres 1821, abends um halb zehn Uhr, brachte der Friseur Johann Christian Woyzeck, einund- vierzig Jahre alt, der sechsundvierzigjährigen Witwe des verstorbenen Chirurgus Woost, Johannen Christianen […] in dem Hausgange ihrer Wohnung auf der Sand- gasse mit einer abgebrochenen Degenklinge, an wel- che er desselben Nachmittags einen Griff hatte befesti- gen lassen, sieben Wunden bei, an denen sie nach we- nigen Minuten ihren Geist aufgab.“ Mit diesen Worten beginnt das Gerichtsgutachten, das klären sollte, ob der früh elternlose, auf Wanderschaft als Perückenma­ cher herumgestoßene, arbeitlose Woyzeck zum Zeit­ punkt des Mordes zurechnungsfähig war. Nach drei Jahren des Hin und Her erkannte das Gericht schließ­ lich auf Zurechnungsfähigkeit. Woyzeck wurde mit dem Schwert öffentlich hingerichtet. Der Verlauf des Dramas Büchner studiert die Prozessakten um Woyzeck und nimmt viele Aspekte in sein Drama auf. Woyzeck steht als einfacher Soldat auf der untersten sozialen Stufe. Der Hauptmann, sein Vorgesetzter, treibt pseudophilo­ sophische Scherze mit ihm. Der Doktor missbraucht ihn zu pseudowissenschaftlichen, mit ein paar Gro­ schen honorierten Menschenversuchen. Seine Gelieb­ te Marie, mit der er ein Kind hat und der er sein gan­ zes Geld bringt, betrügt ihn mit dem durch den Glanz seiner Uniform und seine körperliche Stärke locken­ den Tambourmajor. Seelisch zerstört, von Wahnvor­ stellungen getrieben und durch die Versuche des Dok­ tors verfallen, sieht Woyzeck aus dem Netz der Unter­ drückung keinen anderen „Ausweg“ als die Ermordung Maries. Mit dem Mord, Woyzecks Suche nach dem verlorenen Mordmesser und dem Kommentar eines Polizisten, wie schön der Mord ausgefallen sei, endet das Fragment. Woyzeck, das Versuchsobjekt Hauptmann, Tambourmajor und Doktor – die Figuren tragen keine Namen. Sie sind bloße Träger von Funk­ tionen in einer ungerechten Gesellschaft und zeigen, in welch extremem Maß die Würde des Menschen durch andere zerstört werden kann. Mit dem Doktor kann Büchner, selbst Mediziner, aus eigener Erfahrung die Perversion einer Wissenschaft zeigen, die nicht mehr heilen will, sondern bewusst krank macht und den Menschen zum Versuchsobjekt degradiert. Woy­ zeck ist vertraglich verpflichtet, nur Erbsen zu essen Szenenbild aus „Woyzeck“, Theater Berliner Ensemble, 2014 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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