Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

207 Biedermeier/Vormärz (1820–1848) zum Darsteller von Harmonie und Idylle begann schon mit seinen ersten Veröffentlichungen. Ein Dichterkollege greift Stifter an Im Jahr 1849 veröffentlicht der in Wien lebende nord­ deutsche Dramatiker Friedrich Hebbel (1813–63) das später von ihm ausdrücklich auf Stifter gemünzte Epigramm „Die alten Naturdichter und die neuen“. Die ersten vier Zeilen lauten: Wisst ihr, warum euch die Käfer, die Butterblumen so glücken? Weil ihr die Menschen nicht kennt, weil ihr die Sterne nicht seht! Schautet ihr tief in die Herzen, könntet ihr schwär- men für Käfer? Säht ihr das Sonnensystem, sagt doch, was wär euch ein Strauß? Hebbels Angriffsmethode, Universum und Blumen­ strauß, Tiere und Sterne gegeneinander auszuspielen, mutet zumindest heute recht naiv an. Stifter jeden­ falls ist tief getroffen, als „Blumen- und Käferpoet“ ab­ gestempelt zu werden. „Hebbel und die verwandten Narren“ , ärgert er sich, „drängen sich auf die Bühne und bringen ihr naturwidriges Gezerre […], erwischen immer nur das Widerwärtige.“ Hebbels Pauschalurteil Dass Stifter kein „Käferdichter“ ist, hätte Hebbel aller­ dings selbst feststellen können. Schon in Stifters erster Erzählung „Der Kondor“ aus der Sammlung „Studien“ ist nichts von idyllischer Blumenlandschaft spürbar. Der Himmel ist „ein ganz schwarzer Abgrund […] ohne Maß und Grenze in die Tiefe gehend“ , die Sonne „ein drohen- des Gestirn, ohne Wärme, ohne Strahlen, eine scharf ge- schnittene Scheibe aus wallendem, blähendem, weißge- schmolzenem Metalle“ . Auch in anderen Werken Stifters bricht eine wilde Natur über die Menschen herein: fürch­ terliche Dürre im „Haidedorf“, unvorstellbare Gewitter in „Abdias“ und „Kalkstein“, härteste Winter in der „Mappe meines Urgroßvaters“, Hagelstürme in „Katzensilber“. Wenn Stifter Natur schildert, dann auch oft im Bewusst­ sein ihrer drohenden Ausbeutung unter dem Aspekt rei­ ner Wirtschaftlichkeit: „Alles nimmt auf der Welt ab, der Vogel in der Luft und der Fisch im Wasser“ , so beendet eine alte Frau die Schilderung ihrer Heimat in der Erzäh­ lung „Die Mappe meines Urgroßvaters“. „Das Geld, ein Ding, erst harmlos“ , dann an Bedeutung zunehmend, schließlich ein „Dämon, seine Farbe wechselnd, […] selbst Ding werdend, ja einzig Ding, das all die andern ver- schlang“ , so heißt es im Text „Wien und die Wiener“. Stifter kontert Die künstlerische Reaktion Stifters lässt bis 1853 auf sich warten. In diesem Jahr erscheint eine Sammlung von Erzählungen mit dem Titel „Bunte Steine“. Die Er­ zählungen heißen „Granit“, „Kalkstein“, „Turmalin“, „Bergkristall“, „Katzensilber“, „Bergmilch“ . Die Vorrede zur Sammlung, die Sie hier in Ausschnitten finden, ist Stifters Gegenangriff an die Adresse Hebbels: Es ist einmal gegen mich bemerkt worden, dass ich nur das Kleine bilde, und dass meine Menschen stets gewöhnliche Menschen seien. […] Großes oder Kleines zu bilden, hatte ich bei meinen Schriften überhaupt nie im Sinne, ich wurde von ganz anderen Gesetzen geleitet. […] Weil wir aber schon einmal von dem Großen und Kleinen reden, so will ich meine Ansichten darlegen, die wahrscheinlich von denen vieler anderer Menschen abweichen. Das Wehen der Luft, das Rieseln des Wassers, das Wachsen der Getreide, das Wogen des Meeres, das Grünen der Erde, das Glänzen des Himmels, das Schimmern der Gestirne halte ich für groß: das prächtig einher­ ziehende Gewitter, den Blitz, welcher Häuser spaltet, den Sturm, der die Brandung treibt, den feuerspeien- den Berg, das Erdbeben, welches Länder verschüttet, halte ich nicht für größer als obige Erscheinungen […]. So wie es in der äußeren Natur ist, so ist es auch in der inneren, in der des menschlichen Geschlechtes. Ein ganzes Leben voll Gerechtigkeit, Einfachheit, Bezwin- gung seiner selbst, Verstandesgemäßheit, Wirksamkeit in seinem Kreise, Bewunderung des Schönen, verbun- den mit einem heiteren, gelassenen Sterben, halte ich für groß: mächtige Bewegungen des Gemütes, furchtbar einherrollenden Zorn, die Begier nach Rache, den entzündeten Geist, der nach Tätigkeit strebt, umreißt, ändert, zerstört, und in der Erregung das eigene Leben hinwirft, halte ich nicht für größer, sondern für kleiner […]. Wir wollen das sanfte Gesetz zu erblicken suchen, wodurch das menschliche Geschlecht geleitet wird. […] Es ist das Gesetz dieser Kräfte, das Gesetz der Gerechtigkeit, das Gesetz der Sitte, das Gesetz, das will, dass jeder geachtet, geehrt, ungefährdet neben dem anderen bestehe, dass er seine höhere menschliche Laufbahn gehen könne, sich Liebe und Bewunderung seiner Mitmenschen erwerbe, dass er als Kleinod gehütet werde, wie jeder Mensch ein Kleinod für alle andern ist. 2 4 6 8 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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