Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
203 Biedermeier/Vormärz (1820–1848) Nestroys große Einsicht: Macht wirkt über Sprache Nestroy ist der erste Dramatiker, der die Macht der Sprache analysiert. Sie dient zum Einschüchtern, Ver schleiern, Verbergen von Interessen, zur Manipulation. Schon einfache Veränderungen an einem Wort, wie das Setzen vom Singular in den Plural, können einen Begriff völlig entwerten und daraus sogar das Gegen teil machen, wie folgende Textpassage zeigt: Recht und Freiheit sind ein paar bedeutungsvolle Worte, aber nur in der einfachen Zahl unendlich groß, drum hat man sie uns auch immer nur in der wertlosen vielfachen Zahl gegeben. Das klingt wie ein mathematischer Unsinn, und is doch die evidenteste Wahrheit. […] Was für eine Menge Rech- te haben wir g’habt, diese Rechte der Geburt, die Rechte und Vorrechte des Standes, dann das höchste unter allen Rechten, das Bergrecht, dann das niedrigste unter allen Rechten, das Recht, dass man selbst bei erwiesener Zahlungsunfähigkeit und Armut einen einsperren lassen kann. […] Sogar mit hoher Genehmigung das Recht, ausländische […] Orden zu tragen. Und trotz all diesen unschätzbaren Rechten, haben wir doch kein Recht g’habt, weil wir Sklaven waren. Was haben wir ferner alles für Freiheiten g’habt. Überall auf ’n Land und in den Städten zu gewissen Zeiten Marktfreiheit. […] Wir haben sogar Gedankenfreiheit g’habt, insofern wir die Gedanken bei uns behalten haben. Es war nämlich für die Gedanken eine Art Hundsverord- nung. Man hat s’ haben dürfen, aber am Schnürl führen, wie man s’ loslassen hat, haben s’ einem erschlagen. Mit einem Wort, wir haben eine Menge Freiheiten gehabt, aber von Freiheit keine Spur. Untersuchen Sie, welche Unterschiede der Autor zwischen „Freiheiten“ und „Rechten“ einerseits und „Freiheit“ und „Recht“ andererseits sieht. Ein Riesenerfolg … Am 1. Juli 1848 wurde das Stück uraufgeführt, in der Folge stürmten die Leute ins Theater. Texte wie das Eingangslied des Redakteurs Ultra wurden in ganz Wien gesungen: Unumschränkt haben s’ regiert, Und kein Mensch hat sich g’rührt, Denn hätt’s einer g’wagt Und ein freies Wort g’sagt, Den hätt’ d’ Festung 1 belohnt, Das war man schon g’wohnt. Ausspioniert haben s’ alles glei, Für das war d’ Polizei. Der G’scheite ist verstummt, Kurz ’s war alles verdummt Diese Zeit war bequem Für das Zopfensystem. Auf einmal geht’s los In Paris ganz kurios, Dort sind s’ fuchtig worn, Und haben in ihrem Zorn, Weil s’ d’ Knechtschaft nicht lieben, Den Louis Philipp vertrieb’n. Das Beispiel war bös, So was macht a Getös, Und völlig über Nacht Ist ganz Deutschland erwacht, Das war sehr unangenehm Für das Zopfensystem. Da fing z’ denken an Der gedrückte Untertan: Zum Teuxel hinein, Muss ich denn ein Sklav sein? Ein Fürst ist zwar ein Herr, Aber ich bin Mensch wie er; Und kostet’s den Hals – Rechenschaft soll für all’s Gefordert jetzt wer’n Von die großmächtigen Herrn. Da waren s’ sehr in der Klemm Mit’n Zopfensystem. […] Die Verbrennung des Zopfes Zum Höhepunkt von Demonstrationen für größere Freiheitsrechte wurde das Wartburgfest von Studenten und Professoren 1817. Dabei wurden als Symbole der Unterdrückung ein Offiziersstock, ein Korsett, das damals von Frauen und Männern getragen wurde, und ein Zopf, Kennzeichen des preußischen Militärs, verbrannt. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 Aufgabe 2 4 6 8 10 12 1 Haft 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 Info Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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