Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

194 Fausts neue Alchemie: Aus Papier wird Geld Der historische Faust studierte Alchemie. Kaum je­ mand hält heute die Goldmacherversuche in Alchemie-Zauberküchen für etwas anderes als Scharlatanerie. Die Alchemie in anderer Form hat sich als viel erfolg­ reicher erwiesen. Denn für das Ziel der Alchemie – Wertvolles aus Wertlosem zu schaffen – ist es ja nicht wesentlich, ob z. B. gerade Blei in Gold verwandelt wird. Entscheidend ist nur, dass sich eine wertlose Substanz in eine wertvolle transformiert: zum Beispiel Papier in Geld. Genau das macht Mephistopheles. Zu Beginn von „Faust II“ befinden sich Mephistopheles und Faust am Hof des Kaisers. Die Stimmung ist ge­ trübt, da die Staatskassen leer sind. Auf Rat von Me­ phistopheles führt der Kaiser das Papiergeld ein. Es ist gedeckt durch die im Boden liegenden Goldvorräte und legalisiert durch die Unterschrift des Kaisers. Der Plan gelingt. Jeder ist bereit, die Banknoten oder „Zet­ tel“, wie es im „Faust“ heißt, als Geld anzunehmen. Das Papier, dessen Materialwert gleich null ist, wird mit dem „magischen“ Vertrauen ausgestattet, es im nächs­ ten Kaufakt gegen etwas stofflich Wertvolles eintau­ schen zu können. Der Kanzler des Kaisers erklärt den Leuten die Funk­ tion des Papiergeldes und weist darauf hin, dass der Wert des Geldes durch die Bodenschätze, die im Kai­ serreich lagern, gedeckt ist: Zu wissen sei es jedem, der’s begehrt: Der Zettel hier ist tausend Kronen wert. Ihm liegt gesichert, als gewisses Pfand, Unzahl vergrabenen Guts im Kaiserland. Das Resultat dieser Geldschöpfung ist die „heitre Welt“, in der man sich kaufen kann, was man will, zum Beispiel „Paläste, Gärtlein, Brüstlein, rote Wangen“. Das (Papier-)Geld hat Tücken; Fausts rein ökonomi- sches Verhalten hat Konsequenzen Die Schöpfung des Papiergelds gelingt zwar, aber die Vervielfachung des Geldes führt, auch wenn sie zu­ nächst Industrie, Handel, Konsum beschleunigt, zu sei­ ner zunehmenden Entwertung. Der Hofnarr hat die drohende Inflation und gleichzeitig den möglichen Ausweg erkannt: die Verwandlung des Geldes in Sach­ werte. Die künstliche Herstellung von Papiergeld selbst ist noch keine perfekte Alchemie. Das Papier­ geld bekommt einen materiellen Wert erst dann, wenn es in Produktion und Konsum investiert wird. Das wertlose Papier verwandelt sich in Werte: die Waren. Der Narr wendet sich an Mephistopheles, indem er ei­ nen „Zettel“ betrachtet: Narr: Da seht nur her, ist das wohl Geldes wert? Mephistopheles: Du hast dafür, was Schlund und Bauch begehrt. Narr: Und kaufen kann ich Äcker, Haus und Vieh? Mephistopheles: Versteht sich. Biete nur, das fehlt dir nie. Narr: Und Schloss, mit Wald und Jagd und Fischbach? […] Heut Abend wieg ich mich im Grundbesitz! Mephistopheles […]: Wer zweifelt noch an unseres Narren Witz 1 . Konsequenz eins: die Zerstörung von Menschen und Natur Bei der Eindeichung des ihm vom Kaiser überlassenen Landes zerstört Faust den Lebensraum des dort fried­ lich wohnenden alten Paares Philemon und Baucis. Die beiden wollen aus dem Küstengebiet, wo ihre Hüt­ te steht, nicht fortziehen. Faust gibt Mephistopheles den Befehl, die beiden „umzusiedeln“. Mephistopheles führt den Befehl aus und berichtet: Wir aber haben nicht gesäumt, Behende sie dir weggeräumt. Das Paar hat sich nicht viel gequält, Vor Schrecken fielen sie entseelt. Ein Fremder, der sich dort versteckt Und fechten wollte, ward gestreckt. In wilden Kampfes kurzer Zeit Von Kohlen, ringsumher gestreut, Entflammte Stroh. Nun lodert’s frei, Als Scheiterhaufen dieser drei. Konsequenz zwei: das Unvermögen, den erlangten Reichtum zu genießen Mit dem Reichtum nimmt die Sorge zu: Wie ist der er­ worbene Reichtum zu schützen, wie wird die zukünfti­ ge wirtschaftliche Entwicklung sein? So geht es auch Faust, der mit seinem Eindämmungsprojekt zum Großunternehmer geworden ist. Zwar kann Faust mit dem erworbenen Reichtum den „Mangel“ und die „Not“ fernhalten, doch die „Sorge“ schleicht sich durchs 2 4 2 4 6 8 10 12 1 Witz bedeutete ursprünglich Weisheit, Wissen. 2 4 6 8 10 4. Faust-Fenster Nur zu Prüfzwecken – Eigentum d s Verlags öbv

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