Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

193 Homunculus, der künstliche Mensch Kurz darauf findet Faust sich in seinem Studierzimmer wieder, wo sein einstiger Gehilfe und jetziger Doktor Wagner inzwischen Homunculus, den künstlichen Menschen, geschaffen hat. Homunculus rät Mephisto bei seinem Erscheinen, er solle sich mit ihm und dem schlafenden Faust zur alljährlichen Walpurgisnacht nach Griechenland begeben. Dort angekommen, wird Faust auf seine Fragen nach Helena von einer Seherin in die Unterwelt geführt, wo er sich zwischen Fabel­ wesen und Gespenstern fast verirrt, ohne Helena zu finden. Doch Mephisto bringt sie ihm. Faust geht die Ehe mit ihr ein. Euphorion: Geist und Schönheit Aus der Ehe entsteht der Sohn Euphorion, Symbol der Vereinigung von Geist und Schönheit. Im jugendlichen Übermut strebt er wie einst Ikarus immer höher, bis er tödlich abstürzt und auch die Mutter mit ins Grab reißt. Glück und Schönheit sind zerronnen. Doch mit dem Schwinden der antiken Sphäre fühlt Faust sich zu neuen Taten bereit. Faust als Wirtschaftsmensch Faust stellt sich auf die Seite des Kaisers, der gerade zu einem Schlag gegen Aufständische in seinem Reich ausholt und Faust zum Lohn ein weites Uferland ver­ spricht. Nach dem Sieg mit Hilfe von „Satans Kunst“ ist Faust ein Mensch der Tat geworden. Er betreibt Han­ del und Piraterie. Millionen Menschen will er Grund und Boden verschaffen. Das geht allerdings nur auf Kosten des alten Paares Philemon und Baucis, das an der Küste sein Haus hat. Ihre Vertreibung und ihr Tod werden von Faust bewusst in Kauf genommen. Sogar als die Sorge in Gestalt eines grauen Weibes ihn er­ blinden lässt, nimmt er noch regen Anteil am wirt­ schaftlichen Geschehen. Nun ist er von Glück erfüllt, erkennt, „es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Äonen untergehn“ , genießt den „höchsten Au- genblick“ und spricht den Satz der Wette: „Verweile doch, du bist so schön!“ Damit ist sein Leben verwirkt. Mephisto hat offenbar die Wette gewonnen. „Es ist vollbracht“  – triumphierend verwendet der Teufel die Worte, die Christus bei seinem Tod am Kreuz gespro­ chen hat. Doch als Mephisto den Leichnam Fausts der Hölle übergibt und sich der Seele bemächtigen will, entführen Engel Fausts Seele zu Maria, der „Mater Gloriosa“ , in den Himmel. Im Gegensatz zum Christen­ tum, das an die Auferstehung auch des Körpers glaubt, besteht die Erlösung Fausts in der Trennung des Geis­ tes vom Körper. Im Himmel ist auch Gretchen, als reui­ ge Büßerin hat sie dort Gnade gefunden. Erstmals in der deutschen Literatur seit Lessings Faust-Fragment von 1759, von dem allerdings nur einige Verse und eine Handlungsskizze erhalten sind, wird Faust nicht ver­ dammt. Versiegelung, Verstörung beim Publikum, Bemühen um Verstehen Am 22. Juli 1831 ist „Faust II“ fertig. Goethe versiegelt das Werk, es soll erst nach seinem Tod der Öffentlich­ keit zugänglich gemacht werden. Außerdem findet man das Manuskript im Ofen von Goethes Arbeitszim­ mer. Das gab zu Spekulationen Anlass, dass Goethe das Werk eventuell nicht veröffentlichen, sondern ver­ brennen wollte. 1833 erscheint der erste Druck, die ers­ te Aufführung findet mehr als 20 Jahre später statt. Erst 1854 wird das auf ein Fünftel gekürzte Stück auf die Bühne gebracht. Für diese späte Aufführung war auch das Unverständnis maßgebend, das die Aufnah­ me des Stückes beim Lesepublikum prägte. Die Leser/ Leserinnen hatten einen reumütigen, vom Gewissen gequälten Faust erwartet, der seine Schuld büßt und sich von Mephistopheles distanziert. Manchen war der Schluss mit seinen vielen Engelsgesängen zu „reli­ giös-idyllisierend“. Bis heute dauert das Bemühen um ein Verstehen des zweiten Teils von Goethes Faust­ tragödie an. Eine moderne Deutung des Dramas Ein Wirtschaftswissenschafter liest „Faust II“ neu Von den aktuellen Deutungen des Dramas ist die In­ terpretation, die der Schweizer Wirtschaftswissen­ schafter Hans Christoph Binswanger im Buch „Geld und Magie“ gibt, besonders auffallend. Er deutet „Faust II“ als hellsichtige Analyse der modernen Wirt­ schaft. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=