Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

187 Romantik (1795–1835) allem zu sehn; der Vater war besorgt, dass er durch übertriebenen Fleiß seiner Jugend und Gesundheit schaden möchte: daher machte er sich in einer Nacht auf, um ihn zu ermahnen, seine übertriebene Tätigkeit einzuschränken, als er ihn zu seinem Erstaunen bei einer kleinen Lampe am Tische sitzend fand, indem er wieder mit der größten Emsigkeit die Goldstücke zählte. „Mein Sohn“, sagte der Alte mit Schmerzen, „soll es dahin mit dir kommen, ist dieses verfluchte Metall nur zu unserm Unglück unter dieses Dach gebracht? […] – „Ja“, sagte Christian, „ich verstehe mich selber nicht mehr, weder bei Tage noch in der Nacht lässt es mir Ruhe; seht, wie es mich jetzt wieder anblickt, dass mir der rote Glanz tief in mein Herz hineingeht! Horcht, wie es klingt, dies güldene Blut! das ruft mich, wenn ich schlafe, ich höre es, wenn Musik tönt, wenn der Wind bläst, wenn Leute auf der Gasse sprechen; scheint die Sonne, so sehe ich nur diese gelben Augen, wie es mir zublinzelt, und mir heimlich ein Liebeswort ins Ohr sagen will: so muss ich mich wohl nächtlicherweise aufmachen, um nur seinem Liebesdrang genugzutun, und dann fühle ich es innerlich jauchzen und frohlocken, wenn ich es mit meinen Fingern berühre, es wird vor Freuden immer röter und herrlicher; schaut nur selbst die Glut der Entzückung an!“ […] Das Geld wurde wieder weggeschlossen, Christian versprach sich zu ändern und in sich zu gehn, und der Alte ward beruhigt. […] Wie sehr musste er daher erstaunen, als ihn an einem Abend Elisabeth beiseit nahm und unter Tränen erzählte, wie sie ihren Mann nicht mehr verstehe, er spreche so irre, vorzüglich des Nachts […]. – „Allgütiger Gott!“, rief der Vater aus, „ist der fürchterliche Hunger in ihn schon so fest hineingewachsen, dass es dahin hat kommen können? So ist sein verzaubertes Herz nicht menschlich mehr, sondern von kaltem Metall; wer keine Blume mehr liebt, dem ist alle Liebe und Gottesfurcht verloren.“ Das Geld zerstört auch die Beziehung zur Natur Die Warnungen des Vaters, den „Hunger nach Metall“ zu zügeln, bleiben unbeachtet, Christians Wahr­ nehmungsfähigkeit und die Hochschätzung der leben­ digen Natur sind zerstört. Er verwechselt das Lebendi­ ge mit dem Toten. Verwirrt erklärt er seinem Vater: [I]n den Pflanzen, Kräutern, Blumen und Bäumen regt und bewegt sich schmerzhaft nur eine große Wunde, sie sind der Leichnam vormaliger herrlicher Steinwelten, sie bieten unserm Auge die schrecklichs- te Verwesung dar. […] Frage nur die Steine, du wirst erstaunen, wenn du sie reden hörst. Bestimmen Sie im Text die Stellen, welche die Entfremdung Christians ausdrücken: Entfrem­ dung sich selbst und den anderen gegenüber und verwirrte Wahrnehmung der Natur! Das Ende Das Glück im Dorf reicht Christian nicht. Die Erinne­ rung an das Traumbild der Bergkönigin packt ihn. Christian zieht fort, um sie und ihre Schätze zu suchen. Nach Jahren kommt er ins Dorf zurück, einen Sack Kie­ selsteine schleppend. Den Bewohnern verkündet er, es handle sich um Juwelen. Bestürzt wendet man sich von ihm ab. Dann verschwindet er für immer. Verlust des Menschlichen und die Gier nach Gold Wie Reichtum und Gier das Menschsein zerstören, ist auch Thema anderer romantischer Erzählungen. In der Erzählung „Peter Schlemihl’s wundersame Ge­ schichte“ von Adelbert von Chamisso (1781–1838) ver­ kauft Schlemihl für einen immer gefüllten Geldsack seinen Schatten. Doch so wird er den Menschen fremd, Ausgestoßensein und Rückzug sind die Folge. In der Erzählung „Das kalte Herz“ von Wilhelm Hauff (1802– 27) lässt sich der Kohlenbrenner Munk ein Herz aus Stein einsetzen, um reich zu werden. „Entfremdung“ und „Verdinglichung“ Die Romantiker selbst verwenden die Begriffe „Ent­ fremdung“ und „Verdinglichung“ zwar selbst noch nicht, doch sind ihnen, wie die Skizze des „Runen­ bergs“ und die Andeutungen zu Chamisso und Hauff zeigen, diese Themen bewusst. Diese beiden Begriffe werden in einer der großen Denkrichtungen des 20. Jahrhunderts, der „Kritischen Theorie“, geprägt und zu zentralen Punkten des Denkens. Vertreter dieser Philosophie, wie Max Horkheimer (1895–1973) und Theodor W. Adorno (1903–69), sehen die Tendenz, dass man in unserer Gesellschaft alles unter dem Maßstab der Brauchbarkeit sieht: sich selbst, Mitmenschen, Na­ tur. Wenn aber der Mensch alles unter dem Aspekt der 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 2 4 6 Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=