Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
180 Romantik (1795–1835) Sehnsucht Es schienen so golden die Sterne, Am Fenster ich einsam stand Und hörte aus weiter Ferne Ein Posthorn im stillen Land. Das Herz mir im Leib entbrennte, Da hab’ ich mir heimlich gedacht: Ach, wer da mitreisen könnte In der prächtigen Sommernacht! Zwei junge Gesellen gingen Vorüber am Bergeshang Ich hörte im Wandern sie singen Die stille Gegend entlang: Von schwindelnden Felsenschlüften, Wo die Wälder rauschen so sacht, Von Quellen, die von den Klüften Sich stürzen in die Waldesnacht. Sie sangen von Marmorbildern, Von Gärten, die überm Gestein In dämmernden Lauben verwildern, Palästen im Mondenschein, Wo die Mädchen am Fenster lauschen, Wann der Lauten Klang erwacht Und die Brunnen verschlafen rauschen In der prächtigen Sommernacht. ■■ Bestimmen Sie, wo sich das lyrische Ich „geografisch“ befindet (Details). ■■ Untersuchen Sie, welche optischen und akustischen Eindrücke auf das Ich eindringen und welche Wünsche sie wachrufen. ■■ Stellen Sie die beiden Landschaftsgegen sätze im Lied der „zwei jungen Gesellen“ einander gegenüber. Eichendorff an der Schwelle zur Moderne Doch Eichendorff ist nicht bloß der naive Sänger von Sehnsucht, Wandern, Glück und intakter Natur, als der er oft ausschließlich gesehen wird. In Eichen dorffs Leben und Dichtung bricht die Industrialisie rung viel intensiver ein als in die Welt der Frühro mantiker. 1839 beginnt der 51-jährige Eichendorff mit seiner Autobiografie. Auch von einer Eisenbahnfahrt ist darin die Rede. Während das Wandern Gemein schaft stiftete, ist das Reisen mit der Eisenbahn durch wechselnde Zufallsbekanntschaften bestimmt. Eichendorff wird dies zum Symbol einer fremd wer denden Welt. An einem schönen warmen Herbstmorgen kam ich auf der Eisenbahn vom andern Ende Deutschlands mit einer Vehemenz dahergefahren, als käme es bei Lebensstrafe darauf an, dem Reisen, das doch mein alleiniger Zweck war, auf das allerschleunigste ein Ende zu machen. Diese Dampffahrten rütteln die Welt, die eigentlich nur noch aus Bahnhöfen besteht, unermüdlich durcheinander wie ein Kaleidoskop 1 , wo die vorüberjagenden Landschaften, der fliegende Salon immer andere Sozietäten 2 bildet, ehe man noch irgendeine Physiognomie 3 gefasst, immer neue Gesichter schneiden. Diesmal blieb indessen eine Ruine rechts überm Walde ganz ungewöhnlich lange in Sicht. Europamüde vor Langerweile fragte ich […] nach Namen, Herkunft und Bedeutung des alten Baues; erfuhr aber zu meiner größten Verwunderung weiter nichts als gerade das Unerwartetste, dass nämlich dort oben ein Einsiedler hause. […] Ich beschloss […], auf der nächsten Station zurückzu bleiben und den seltsamen Kauz womöglich in seinem eignen Neste aufzusuchen. Das war aber nicht so leicht, wie ich’s mir vorgestellt hatte. In den Bahnhöfen ist eine so große Eilfertigkeit, dass man vor lauter Eile mit nichts fertig werden kann. Die Leute wussten genau, in welcher Stunde und Minute ich in Paris oder Triest oder Königsberg, wohin ich nicht wollte, sein könne, über Zugang und Entfer- nung des geheimnisvollen Waldes aber, wohin ich eben wollte, konnte ich nichts Gewisses erfahren; ja der Befragte blickte verwundert nach der bezeich neten Richtung hin, ich glaube, er hatte die Ruine bisher noch gar nicht bemerkt. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 1 fernrohrähnliches Spielzeug, bei dem sich durch Schütteln Glasteil- chen zu immer neuen Bildern anordnen 2 Im Waggon bilden sich ständig wechselnde „Fahrgemeinschaften“. 3 Aussehen eines Menschen, Gesichtsausdruck Aufgabe 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eige tum des Verlags öbv
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=