Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

178 Romantik (1795–1835) 2. Fassung: Am dritten Tag aber kam der König von der Jagd heim und erzählte ihr: „Ich bin vorgestern auf der Jagd gewesen, und als ich tief in den dunklen Wald kam, war da ein kleines Haus und vor dem Haus war ein gar zu lächerliches Männchen, das sprang als auf einem Bein davor herum und schrie: „Heute back ich, morgen brau ich, übermorgen hol ich der Frau Königin ihr Kind, ach wie gut ist, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß!“ Wie die Königin das hörte, ward sie ganz froh, und als das gefährliche Männlein kam, frug es: „Frau Königin, wie heiß ich? „Heißest du Conrad?“ – „Nein.“ – „Heißest du Heinrich?“ – „Nein.“ – „Heißt du etwa Rumpelstilzchen?“ – „Das hat dir der Teufel gesagt“, schrie das Männchen, lief zornig fort und kam nimmermehr wieder. 3. Fassung: Den dritten Tag kam der Bote wieder zurück und erzählte: „Neue Namen habe ich keinen einzigen finden können, aber wie ich an einen hohen Berg um die Waldecke kam, […] so sah ich da ein kleines Haus, und vor dem Haus brannte ein Feuer, und um das Feuer sprang ein gar zu lächerliches Männchen, hüpfte auf einem Bein und schrie: „Heute back ich, morgen brau ich, übermorgen hol ich der Königin ihr Kind; Ach, wie gut ist, dass niemand weiß, dass ich Rumpel- stilzchen heiß!“ Da könnt ihr denken, wie die Königin froh war, als sie den Namen hörte, und als bald hernach das Männlein hereintrat und fragte: „Nun, Frau Königin, wie heiß ich?“, fragte sie erst: „Heißest du Kunz?“ – „Nein.“ – „Heißest du Heinz?“ – „Nein.“ – „Heißt du etwa Rumpelstilzchen?“ „Das hat dir der Teufel gesagt, das hat dir der Teufel gesagt“, schrie das Männlein und stieß mit dem rechten Fuß vor Zorn so tief in die Erde, dass es bis an den Leib hineinfuhr, dann packte es in seiner Wut den linken Fuß mit beiden Händen und riss sich selbst mitten entzwei. Woran erkennt man ein Märchen? Ein Märchen ist gekennzeichnet durch: ■■ Eindimensionalität: keine Unterscheidung zwischen real und irreal; ■■ Dreizahl: drei Wünsche, Aufgaben, Versuche, oft auch drei Hauptpersonen. Die Dreier-Strukturie­ rung ist auch eine Merkhilfe für den Erzähler; ■■ Flächenhaftigkeit: weder Schauplatz noch Zeitpunkt oder Zeitverlauf (die Figuren altern nicht) noch Personen werden näher beschrieben; ■■ Formelhaftigkeit: Eingangsformeln, die in das Märchenland „entführen“ wollen und Schlussfor­ meln, die das Publikum wieder „zurückholen“; ■■ Isolation: Meist müssen Held oder Heldin in der Isolation ihre Prüfung bestehen: z. B. die Eltern sind tot oder haben sie verstoßen; ■■ Polarisation: extreme Zeichnung sowohl der Personen (ganz gut und schön oder abgrundtief böse und hässlich) als auch der Situationen (so arm, dass sie nichts mehr zu essen haben oder unvorstellbare Reichtümer, die gewonnen werden); auch die Aufgaben, die es zu erfüllen gilt, sind extrem (einen Berg abtragen, einen Riesen töten); ■■ Achtergewicht (achtern = hinten; ein Begriff aus der Schifffahrt): Das Märchen steht mit seiner Sympathie dort, wo die „Letzten“, „Hintersten“ sind, auf der Seite der Schwächsten, der „Dum­ men“; ■■ Das gute Ende: Märchen enden durchwegs gut: Bestrafung der Bösen, Belohnung der Mutigen, Aufstieg der „Kleinen“ und Unbedeutenden, Erfüllung der Sehnsucht nach Liebe oder Gerech­ tigkeit, Wiedererlangung der menschlichen Gestalt nach Verwandlungen, die von bösen Kräfte verursacht wurden. Dieses Ende wird jedoch nach Kulturen verschieden ausgeformt. Englische Märchen enden mit dem Satz „Sie lebten glücklich auf immer“, französische Märchen verwenden den Schlusssatz „Und sie hatten viele Kinder“, den Schluss deutscher Märchen bildet oft die Formel „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“. 2 4 6 8 10 12 14 16 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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