Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
173 Romantik (1795–1835) …doch dann heftig abgelehnt Je mehr sich die Romantiker mit dem „Wilhelm Meis ter“ befassten und je mehr die Handlung des Romans fortschritt, umso mehr distanzierten sie sich von Goe thes Roman. Die Richtlinie der „Turmgesellschaft“ für Wilhelm lautet: „Der Mensch ist nicht eher glücklich, als bis sein unbedingtes Streben sich selbst seine Begren- zung bestimmt.“ „Begrenzung“ war das Gegenteil des sen, was die Romantiker von Poesie und Leben forder ten. Am schärfsten wandte sich nun Novalis gegen Goethes Roman: „Es ist im Grunde ein fatales und al- bernes Buch […] undichterisch in höchstem Grade. […] Das Romantische geht in ihm zugrunde, […] das Wun- derbare. Er ist eine […] bürgerliche und häusliche Ge- schichte. […] Es ist mir unbegreiflich, wie ich so lange habe blind sein können“ , heißt es in einem Brief an Ludwig Tieck. Mit seinem „Heinrich von Ofterdingen“ wollte Novalis den bürgerlichen Bildungsroman Goe thes auf romantische Art korrigieren und übertreffen. Lieber die blaue Blume finden, als Adeliger zu werden Wilhelm Meister als Person gehe es eigentlich gar nicht um seine Ausbildung zur Persönlichkeit, er möch te als Bürgerlicher nur gerne in den Adelsstand erho ben werden, eine „Wallfahrt nach dem Adelsdiplom“ unternehmen, so sieht Novalis nun die Person Wil helms. Heinrich von Ofterdingen hingegen, die Haupt figur von Novalis’ im Mittelalter spielendem Roman, verfolgt ein ganz anderes Lebensziel. Der zwanzigjäh rige Heinrich aus Eisenach in Thüringen am Fuße der Wartburg ist von einem Unbekannten besucht wor den, der in ihm die Sehnsucht nach der blauen Blume erweckt: „[D]ie blaue Blume sehn’ ich mich zu erblicken. Sie liegt mir unaufhörlich im Sinn, […] es ist, als hätt’ ich vorhin geträumt, oder ich wäre in eine andere Welt hinübergeschlummert. […] Ich hörte einst von alten Zeiten reden; wie da die Tiere und Bäume und Felsen mit den Menschen gesprochen hätten. Mir ist grade so, als wollten sie allaugenblicklich anfangen, und als könnte ich es ihnen ansehen, was sie mir sagen wollten. […] Der Jüngling verlor sich allmählich in süßen Fanta- sien und entschlummerte.“ Das Unbewusste sieht mehr als das Bewusste Heinrich gerät im Traum, dem Spiegel des Unbewuss ten, das mehr weiß als das Bewusste, in eine unterirdi sche Höhle, in der sich ein Becken befindet. Er näherte sich dem Becken, das mit unendlichen Farben wogte und zitterte. Die Wände der Höhle waren mit […] Flüssigkeit überzogen, die nicht heiß, sondern kühl war, und an den Wänden nur ein mattes, bläuliches Licht von sich warf. Er tauchte seine Hand in das Becken und benetzte seine Lippen. Es war, als durchdränge ihn ein geistiger Hauch, und er fühlte sich innigst gestärkt und erfrischt. Ein unwiderstehliches Verlangen ergriff ihn sich zu baden, er entkleidete sich und stieg in das Becken. Es dünkte ihn, als umflösse ihn eine Wolke des Abend- rots; eine himmlische Empfindung überströmte sein Inneres; mit inniger Wollust strebten unzählbare Gedanken in ihm sich zu vermischen; neue, nie gesehene Bilder entstanden, die auch in einander flossen und zu sichtbaren Wesen um ihn wurden, und jede Welle des lieblichen Elements schmiegte sich wie ein zarter Busen an ihn. Die Flut schien eine Auflösung reizender Mädchen […]. Berauscht von Entzücken und doch jedes Eindrucks bewusst, schwamm er gemach dem leuchtenden Strome nach, der aus dem Becken in den Felsen hineinfloss. Eine Art von süßem Schlummer befiel ihn, in welchem er unbeschreibliche Begebenheiten träumte und woraus ihn eine andere Erleuchtung weckte. Er fand sich auf einem weichen Rasen am Rande einer Quelle, die in die Luft hinausquoll und sich darin zu verzehren schien. Dunkelblaue Felsen mit bunten Adern erhoben sich in einiger Entfernung; das Tageslicht [,] das ihn umgab, war heller und milder als das gewöhnliche, der Himmel war schwarzblau und völlig rein. Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die zunächst an der Quelle stand, und ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte. Rund um sie her standen unzähli- ge Blumen von allen Farben, und der köstlichste Geruch erfüllte die Luft. Er sah nichts als die blaue Blume und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stängel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blütenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte. Sein süßes Staunen wuchs mit der sonderbaren Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme seiner Mutter weckte und er sich in der elter- lichen Stube fand, die schon die Morgensonne vergoldete. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzweck n – Eigentum des Verlags öbv
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