Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

16 Frühmittelalter (770–910 und 1060–1170) Der Fokus Frau Ava, die erste deutschsprachige Dichterin Das Werk der Frau Ava Das erhaltene Werk der Dichterin besteht aus etwa 300 Strophen, ist in einer Handschrift aus dem steirischen Kloster Vorau enthalten und befasst sich mit biblischen Themen. Die Titel ihrer Werke: „Johannes der Täufer“, „Das Leben Jesu“, „Der Antichrist“ und „Das Jüngste Ge­ richt“. In dessen letzter Strophe stellt sie sich selbst vor. Sie finden hier Original und Übersetzung: Dizze buoch dihtôte zweier chinde muoter. […] der muoter wâren diu chint liep, der eine von der werlt sciet. nu bitte ich iuch gemeine, michel unde chleine, swer dize buoch lese, daz er sîner sêle gnâden wunskende wese. unde dem einen, der noch lebet unde der in den arbeiten strebet, dem wunsket gnâden und der muoter, daz ist AVA. Dieses Buch dichtete die Mutter zweier Kinder; die Kinder waren ihr lieb, der eine musste aus der Welt scheiden; deshalb bitte ich euch alle, groß und klein, wer auch immer dieses Buch liest, dass er für dessen Seele bete und dem einen, der noch lebt und sich in seiner Arbeit bemüht, Glück wünscht und auch seiner Mutter, der AVA. Eine literarische Sensation Nicht nur die Nennung der Dichterin am Ende ihres Werkes ist für die damalige Zeit außergewöhnlich. Diese Nennung erlaubt es auch, Frau Ava (um 1160– 1227) zu identifizieren. Sie stammte vermutlich aus Kärnten oder der Steiermark und lebte im Donautal in der Nähe von Melk. Ihr Tod wird mehrfach beurkundet, was auf ihre überregionale Bedeutung schließen lässt. Doch neben der bemerkenswerten Tatsache, dass die erste namentlich bekannte Dichterin deutscher Spra­ che Österreicherin ist, lässt die Wissenschaft mit einer spektakulären These aufhorchen. Frau Ava soll nach neuesten Forschungen die Autorin eines der bekann­ testen Liebesgedichte deutscher Sprache sein, das in Gedichtsammlungen bisher stets unter den Rubriken „Anonym“ oder „Namenlos“ angeführt wurde: Dû bist mîn, ich bin dîn. des solt dû gewis sîn. dû bist beslozzen in mînem herzen; verlorn ist das sluzzelîn: dû muost ouch immer darinne sîn. Grenzenlos Der Vater-Sohn-Konflikt als literarisches Thema bis heute Das Happyend Der Vater-Sohn-Konflikt ist ein uraltes Geschehen und deshalb ein ursprüngliches Motiv der Literatur. In Ge­ sellschaften wie der germanischen, die auf dem Besitz von Ackerland und dem bewaffneten Schutz nach au­ ßen beruhte, war nur für einen Mann Platz zum Besit­ zen und Befehlen. Meist fügte sich der junge, bis der alte bereit oder durch körperliche Schwäche gezwun­ gen war abzutreten. Ob die Reibungen zwischen Sohn und Vater zum handgreiflichen Konflikt führen, hängt von den in einer Gesellschaft geltenden Sitten und Ge­ setzen ab. Der tödliche Kampf zwischen Sohn und Va­ ter im „Hildebrandslied“ musste deshalb späteren Ge­ nerationen, die vom christlichen Weltbild geprägt wa­ ren, inakzeptabel erscheinen. Das „Hildebrandslied“ war wegen seiner Spannung zwar interessant, man lehnte aber den tödlichen Ausgang ab. Eine frühneu­ hochdeutsche Nachdichtung des Hildebrandslieds aus dem 15. Jahrhundert bietet deshalb ein Happyend. Es kommt zwar zum Kampf, aber während des Kampfes spricht man auch über die eigene Herkunft. Hadu­ brand beginnt: 2 4 6 2 4 6 2 4 6 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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