Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

159 „Weimarer Klassik“ (1786/1794–1805)/„Geist der Goethezeit“ (bis 1832) Maturaraum 8 Für Ihre schriftliche Reifeprüfung/Reife- und Diplomprüfung Eine höchst verstörende Erzählung Schon die Dichterkollegen waren in ihren Urteilen zu Kleists Erzählung „Das Bettelweib von Locarno“ höchst uneins. Der Romantiker Ludwig Tieck, der Kleists Werke herausgab, war ratlos: „Die Darstellung ist trefflich, aber nach meiner Einsicht ist sie weder Gespenstergeschichte, Märchen, noch Novelle.“ Joseph von Eichendorff hingegen meinte überzeugt: „Wo gibt es in unserer ganzen poetischen Literatur etwas Verzweiflungsvolleres als diese kleine, fast grausenhafte Erzählung?“ Der Realist Theodor Fontane kritisierte, dass das Verhältnis zwischen begangenem Unrecht und den fürchterlichen Folgen nicht stimme. Thema: Spuk und Realität Aufgabe: Heinrich von Kleist: Das Bettelweib von Locarno (1810) Verfassen Sie eine Textinterpretation. Lesen Sie die Erzählung „Das Bettelweib von Locarno“ von Heinrich von Kleist in Originalschreibung. Verfassen Sie nun die Textinterpretation und bearbeiten Sie dabei die folgenden Arbeitsaufträge: ■■ Bestimmen Sie, welche sozial unterschiedlichen Personengruppen im Text auftreten und welche Person das dramatische Geschehen in Gang setzt. ■■ Untersuchen Sie die Erzählperspektive und den Satzbau des Textes. ■■ Begründen Sie Ihre Ansicht, ob Sie den Spuk als „real“ oder als „Einbildung“ bewerten würden. ■■ Beurteilen Sie die Handlung des Marchese gegenüber der Bettlerin, insbesondere in Hinblick darauf, ob man von einer schuldhaften Handlung sprechen kann. Schreiben Sie zwischen 540 und 660 Wörter. Heinrich von Kleist: Das Bettelweib von Locarno Am Fuße der Alpen bei Locarno im oberen Italien befand sich ein altes, einem Marchese gehöriges Schloß, das man jetzt, wenn man vom St. Gotthard kommt, in Schutt und Trümmern liegen sieht: ein Schloß mit hohen und weitläufigen Zimmern, in de- ren einem einst auf Stroh, das man ihr unterschüttete, eine alte kranke Frau, die sich bettelnd vor der Tür eingefunden hatte, von der Hausfrau aus Mitleiden gebettet worden war. Der Marchese, der bei der Rückkehr von der Jagd zufällig in das Zimmer trat, wo er seine Büchse abzusetzen pflegte, befahl der Frau unwillig, aus dem Winkel, in welchem sie lag, aufzustehn und sich hinter den Ofen zu verfügen. Die Frau, da sie sich erhob, glitschte mit der Krücke auf dem glatten Boden aus und beschädigte sich auf eine gefährliche Weise das Kreuz; dergestalt, daß sie zwar noch mit unsäglicher Mühe aufstand und quer, wie es ihr vorgeschrieben war, über das Zimmer ging, hinter dem Ofen aber unter Stöhnen und Ächzen nieder- sank und verschied. Mehrere Jahre nachher, da der Marchese durch Krieg und Mißwachs in bedenkliche Vermögensum- stände geraten war, fand sich ein florentinischer Ritter bei ihm ein, der das Schloß seiner schönen Lage wegen von ihm kaufen wollte. Der Marchese, dem viel an dem Handel gelegen war, gab seiner Frau auf, den 5 10 15 20 25 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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