Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

156 „Weimarer Klassik“ (1786/1794–1805)/„Geist der Goethezeit“ (bis 1832) Ein Reisender zu Fuß Einer der bemerkenswertesten Italienreisenden der Epoche ist ohne Zweifel Johann Gottfried Seume (1763–1810). Am 6. 10. 1801 bricht Seume von Leipzig auf und kommt, zu Fuß, bis Syrakus auf Sizilien, am 24. 8. 1802 ist er wieder zurück. Der gemütliche Titel seines Reiseberichts, „Spaziergang nach Syrakus“, steht in ironischem Kontrast zur gar nicht bequemen Fußreise über Wien, Venedig, Rom, Neapel nach Syra­ kus und retour über Mailand, Zürich, Paris, Frankfurt am Main, auf der Seume oft in bedrohliche Situatio­ nen gerät. 1805 wandert er nach Russland, Finnland, Schweden. Aus welchen Gründen geht jemand tau­ sende Kilometer zu Fuß, anstatt Kutsche, Wagen, Pfer­ de zu nehmen? Lesen Sie dazu Seume selbst: Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt. Überfeine und unfeine Leute mögen ihre Glossen darüber machen nach Belieben; es ist mir ziemlich gleichgültig. Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbstän- digste in dem Manne und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. Man kann fast überall bloß deswegen nicht recht auf die Beine kommen und auf den Beinen bleiben, weil man zuviel fährt. […] Wer zuviel in dem Wagen sitzt, mit dem kann es nicht ordentlich gehen. Wo alles zuviel fährt, geht alles sehr schlecht, man sehe sich nur um! Sowie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Man kann niemand mehr fest und rein ins Angesicht sehen, wie man soll, man tut notwendig zuviel oder zuwenig. Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft. Schon deswegen wünschte ich nur selten zu fahren, und weil ich im Wagen keinem Armen so bequem und freundlich einen Groschen geben kann. Wenn ich nicht mehr zuwei- len einem Armen einen Groschen geben kann, so lasse mich das Schicksal nicht länger mehr leben! ■■ Schlagen Sie die Bedeutung der Begriffe „anthropologisch“ und „kosmisch“ nach und erklären Sie, was Seume im ersten Satz damit meint. Welches Verb verwendet er als Antithese zu „gehen“? Fassen Sie Seumes Gründe für seine Bevorzu­ gung des Gehens zusammen. ■■ Schreiben Sie in freier Form eine Stellung­ nahme zu dem berühmt gewordenen Satz: „Ich bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge“ ! Grenzenlos Von Hölderlins „Umnachtungsgedichten“ zu den Gugginger Künstlern Die Erfolgsgeschichte von Gugging Bis ins 20. Jahrhundert bezeichnete man Hölderlins späte Lyrik als „Gedichte aus der Zeit der Umnach­ tung“. Heute spricht man neutral von den „späten“ Ge­ dichten. Man ist vorsichtig geworden mit der Etikettie­ rung „gesund/krank“ und befasst sich vorurteilsloser mit der Kunst von Menschen, die man früher als psy­ chisch krank abqualifiziert hätte. Einen wichtigen Bei­ trag für diese Änderung leisteten die Künstlerinnen und Künstler von Gugging. Ende der 50er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts veranlasste der Psychiater Leo Navratil in der Klinik Maria Gugging bei Kloster­ neuburg seine Patienten, für psychologische Tests Zeichnungen anzufertigen. Anfangs war es vor allem J. H. W. Tischbein, Goethe in der Campagna, Öl auf Leinwand, 1787 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzweck n – Eigentum des Verlags öbv

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