Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

Zitronenbäume vor der Küste von Cinque Terre, Italien 155 „Weimarer Klassik“ (1786/1794–1805)/„Geist der Goethezeit“ (bis 1832) Anstoß gibt Johann Joachim Winckelmann. Wer der Antike wirklich begegnen will, muss zur Antike reisen, die Originale sehen. Bilder und Kopien der klassischen Kunstwerke sind, wie er schreibt, „nur der Schatten, nicht die Wahrheit. […] Es kann […] die wahre und völ- lige Kenntnis des Schönen in der Kunst nicht anders, als durch Betrachtung der Urbilder selbst, und vornehmlich in Rom erlanget werden; und eine Reise nach Italien ist denjenigen zu wünschen, die mit Fähigkeit zur Kenntnis des Schönen von der Natur begabt sind […].“ In Italien entsteht die erste Tourismusindustrie, und Kunstrei­ sende klagen auch bereits über Fälschungen, die ih­ nen statt der antiken Originale verkauft werden. Goethes Italienerlebnis Am 3. September 1786 bricht Goethe heimlich nach Ita­ lien auf. Er flieht auch aus einer persönlichen Krise: Das Dichten in Weimar stockt wegen der umfangrei­ chen Amtsgeschäfte, die Goethe als Minister zu erledi­ gen hat. Seine Beziehung zu seiner Freundin Frau von Stein ist problematisch geworden. Ende Oktober er­ reicht er, inkognito unter dem Namen „Filippo Miller“, Nationalität „Tedesco“, Beruf „Pittore“ 1 , Rom. Die Stadt und ihre Kunst nehmen ihn gefangen: Denn es geht, man darf wohl sagen, ein neues Leben an, wenn man das Ganze mit Augen sieht, das man teilweise in- und auswendig kennt. Alle Träume meiner Jugend seh’ ich nun lebendig; die ersten Kupferbilder, deren ich mich erinnere […], seh’ ich nun in Wahrheit, und alles, was ich in Gemälden und Zeichnungen, Kupfern und Holzschnitten schon lange gekannt, steht nun beisammen vor mir, wohin ich gehe, finde ich eine Bekanntschaft in einer neuen Welt; es ist alles wie ich mir’s dachte und alles neu.“ Doch auch die Natur, die Vorteile des alltäglichen Le­ bens im Süden, wie das „fischreiche Meer“ , dass „aller- lei Obst und Gartenfrüchte zu jeder Jahreszeit in Über- fluss zu haben sind“ , und „südliche“ Sinnlichkeit beein­ drucken ihn. Dies beweisen die „Römischen Elegien“, die Goethe nach seiner Rückkehr verfasst und in de­ nen er sich an seine römische Geliebte, die er „Fausti­ na“ nennt, erinnert: 1 Maler 2 4 6 8 10 Hier befolg ich den Rat, durchblättre die Werke der Alten Mit geschäftiger Hand, täglich mit neuem Genuss. Aber die Nächte hindurch hält Amor mich anders beschäftigt; Werd’ ich auch halb nur gelehrt, bin ich doch doppelt beglückt. Und belehr’ ich mich nicht, wenn ich des lieblichen Busens Formen spähe, die Hand leite die Hüften hinab. Dann versteh’ ich den Marmor erst recht: ich denk’ und vergleiche, Sehe mit fühlendem Aug’, fühle mit sehender Hand. Raubt die Liebste denn gleich mir einige Stunden des Tages, Gibt sie Stunden der Nacht mir zur Entschädigung hin. Wird doch nicht immer geküsst, es wird vernünftig gesprochen; Überfällt sie der Schlaf, lieg ich und denke mir viel. Oftmals hab ich auch schon in ihren Armen gedichtet Und des Hexameters Maß leise mit fingernder Hand Ihr auf den Rücken gezählt. Sie atmet in lieblichem Schlummer, Und es durchglühet ihr Hauch mir bis ins Tiefste die Brust. […] 2 4 6 8 10 12 14 16 ■■ Erläutern Sie, an welcher Textstelle Kunstwahrnehmung und Liebesakt miteinander verschmelzen. ■■ Diskutieren Sie, weshalb die „Römischen Elegien“ erst 1914 ungekürzt veröffentlicht worden sind. Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=