Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

153 „Weimarer Klassik“ (1786/1794–1805)/„Geist der Goethezeit“ (bis 1832) war, stand in Flammen, und an die Stelle, wo sich ihr väterliches Haus befunden hatte, war ein See getreten, und kochte rötliche Dämpfe aus. Die trügerische Idylle Außerhalb der Stadt in einem idyllischen Tal strömen viele Gerettete zusammen. Die Natur bildet für den Rousseau-Anhänger Kleist einen positiven Kontrast zur Gesellschaft. Auch Jeronimo und Josephe mit ih­ rem Kind finden dort zueinander. Ihre Freude ist groß, in der allgemeinen Not schämen sie sich fast, so wun­ derbar gerettet worden zu sein. Und weil die Armen immer noch jammerten; dieser, dass er sein Haus, jener, dass er Weib und Kind, und der dritte, dass er alles verloren habe: so schlichen Jeronimo und Josephe in ein dichteres Gebüsch, um durch das heimliche Gejauchz ihrer Seelen niemand zu betrüben. Sie fanden einen prachtvollen Granat­ apfelbaum, der seine Zweige, voll duftender Früchte, weit ausbreitete; und die Nachtigall flötete im Wipfel ihr wollüstiges Lied. […] Sie beschlossen, sobald die Erderschütterungen aufgehört haben würden, nach La Conception zu gehen; wo Josephe eine vertraute Freundin hatte, sich mit einem kleinen Vorschuss, den sie von ihr zu erhalten hoffte, von dort nach Spanien einzuschiffen, wo Jeronimos mütterliche Verwandten wohnten, und daselbst ihr glückliches Leben zu beschließen. Die subjektive Deutung Josephe und Jeronimo können aus ihrer Perspektive das Geschehen nur hoffnungsvoll sehen. Die Zerstö­ rungen, die das Erdbeben verursacht hat, haben nicht nur ihre Flucht und ihr Zusammentreffen im Tal er­ möglicht, sondern auch alle an ihrer Verurteilung be­ teiligten weltlichen und geistigen Institutionen ver­ nichtet. Ihre Interpretation der Lage: Gott hat ihre Rettung beschlossen. Die falsche Entscheidung In der Überzeugung, in einen göttlichen Plan einge­ bunden zu sein, der ihre Errettung vorgesehen hat, verwerfen Jeronimo und Josephe die vorgesehene ver­ nünftige Flucht nach Spanien. Sie begeben sich in reli­ giöser Begeisterung nach St. Jago zurück, um in der einzigen heil gebliebenen Kirche, jener der Dominika­ ner, Gott für ihre Rettung zu danken. Doch dort wer­ den die beiden getötet. So wie Jeronimo und Josephe aus ihrer begrenzten Sicht gefühlsmäßig und ohne zu überlegen gehandelt haben, so unüberlegt und blind handeln auch die Mörder und die Anstifter zum Mord. Die Katastrophe geschieht, weil jeder nur seine beschränkte Sicht der Dinge hat Der Gottesdienst in der Kirche beginnt, ein Geistlicher beginnt zu predigen. Bald verwandelt sich die Predigt in Hetze. Er schilderte, was auf den Wink des Allmächtigen geschehen war; das Weltgericht kann nicht entsetzli- cher sein; und als er das gestrige Erdbeben gleichwohl, auf einen Riss, den der Dom erhalten hatte, hinzei- gend, einen bloßen Vorboten davon nannte, lief ein Schauder über die ganze Versammlung. Hierauf kam er, im Flusse priesterlicher Beredsamkeit, auf das Sittenverderbnis der Stadt; Gräuel, wie Sodom und Gomorrha sie nicht sahen, straft’ er an ihr; und nur der unendlichen Langmut Gottes schrieb er es zu, dass sie noch nicht gänzlich vom Erdboden vertilgt worden sei. Aber wie dem Dolche gleich fuhr es durch die von dieser Predigt schon ganz zerrissenen Herzen unserer beiden Unglücklichen, als der Chorherr bei dieser Gelegenheit umständlich des Frevels erwähnte, der in dem Klostergarten der Karmeliterinnen verübt worden war; die Schonung, die er bei der Welt gefunden hatte, gottlos nannte, und in einer von Verwünschungen erfüllten Seitenwendung, die Seelen der Täter, wörtlich genannt, allen Fürsten der Hölle übergab! In einer für Kleist typischen Eskalation der Gewalt be­ gehen die eigentlich zur heiligen Messe versammel­ ten Menschen Selbstjustiz. Die vom Priester aufgewie­ gelte Menge verwandelt die Kirche und den Vorplatz in ein Schlachtfeld. Jeronimo und Josephe und ein Kind werden gelyncht. Gerade der Glaube an das rettende Eingreifen Gottes, der die beiden dazu veranlasste, den Gottesdienst zu besuchen, wird ihnen nun zum Verhängnis. Der fundamentalistische Prediger mit sei­ ner beschränkten subjektiven Sicht der Dinge, der das Erdbeben als Strafe Gottes interpretiert, trägt dazu genauso bei wie der Pöbel, der den Mord an Jeronimo und Josephe als gerechte Sühnetat deutet. Niemand findet zu einer objektiven Sicht und Einschätzung. Kleists radikale Absage an den optimistischen Humanismus Kleists Absage an die optimistische Idee des Humanis­ mus wird besonders im Vergleich mit Goethes „Iphige­ 26 2 4 6 8 10 12 14 16 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentu des Verlags öbv

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