Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

152 „Weimarer Klassik“ (1786/1794–1805)/„Geist der Goethezeit“ (bis 1832) und Fälschungen freier Kommunikation. In einem Brief beklagt Kleist, dass „es uns an einem Mittel zur Mitteilung fehlt. Selbst das einzige, das wir besitzen, die Sprache taugt nicht dazu, […] was sie uns gibt, sind nur zerrissene Bruchstücke.“ Man könnte Kleist in die­ sem Zusammenhang als einen der ersten „Sprachskep­ tiker“ bezeichnen. Stellen Sie mündlich Kleists „Kant-Krise“ dar. „Das Erdbeben in Chili“ – Ausgangspunkt und Vorgeschichte Kleists erste gedruckte Erzählung setzt mit einer für seinen Stil typischen ausgedehnten Satzperiode ein: In St. Jago, der Hauptstadt des Königreichs Chili, stand gerade in dem Augenblicke der großen Erderschütterung vom Jahre 1647, bei welcher viele tausend Menschen ihren Untergang fanden, ein junger, auf ein Verbrechen angeklagter Spanier, namens Jeronimo Rugera, an einem Pfeiler des Gefängnisses, in welches man ihn eingesperrt hatte, und wollte sich erhenken. Der Grund für seine Einkerkerung wird unmittelbar darauf gegeben. Ein Adeliger hat Jeronimo, Hauslehrer von dessen Tochter Josephe, wegen des allzu „zärtli- chen Einverständnisses“ mit ihr entlassen und seine Tochter als Strafe ins Kloster gesteckt. Doch die beiden halten ihre Liebesbeziehung aufrecht. Bei der Fron­ leichnamsprozession wird Josephe vor der Kathedrale von den Wehen überrascht. Kaum hat sie im Gefäng­ nis einen Buben geboren, wird beiden der Prozess ge­ macht. Josephe wird zum Tod verurteilt, „zur großen Entrüstung der Matronen und Jungfrauen von St. Jago“ allerdings nicht zum Feuertod, sondern „nur“ zur Ent­ hauptung. Jeronimo wird verhaftet und will im Ge­ fängnis Selbstmord begehen. Die zufällige Wirkung des Bebens – Teil 1: Jeronimo Eben stand er [= Jeronimo], wie schon gesagt, an einem Wandpfeiler, und befestigte den Strick, der ihn dieser jammervollen Welt entreißen sollte, an eine Eisenklammer, die an dem Gesimse derselben eingefügt war; als plötzlich der größte Teil der Stadt, mit einem Gekrache, als ob das Firmament einstürz- te, versank, und alles, was Leben atmete, unter seinen Trümmern begrub. Jeronimo Rugera war starr vor Entsetzen; und gleich als ob sein ganzes Bewusstsein zerschmettert worden wäre, hielt er sich jetzt an dem Pfeiler, an welchem er hatte sterben wollen, um nicht umzufallen. Der Boden wankte unter seinen Füßen, alle Wände des Gefängnisses rissen, der ganze Bau neigte sich, nach der Straße zu einzustürzen, und nur der, seinem langsamen Fall begegnende, Fall des gegenüberstehenden Gebäudes verhinderte, durch eine zufällige Wölbung, die gänzliche Zubodenstre- ckung desselben. Zitternd, mit sträubenden Haaren, und Knien, die unter ihm brechen wollten, glitt Jeronimo über den schiefgesenkten Fußboden hinweg, der Öffnung zu, die der Zusammenschlag beider Häuser in die vordere Wand des Gefängnisses eingerissen hatte. […] Besinnungslos, wie er sich aus diesem allgemeinen Verderben retten würde, eilte er, über Schutt und Gebälk hinweg, indessen der Tod von allen Seiten Angriffe auf ihn machte, nach einem der nächsten Tore der Stadt. Die zufällige Wirkung des Bebens – Teil 2: Josephe Josephe war, auf ihrem Gang zum Tode, dem Richtplatze schon ganz nahe gewesen, als durch den krachenden Einsturz der Gebäude plötzlich der ganze Hinrichtungszug auseinandergesprengt ward. Ihre ersten entsetzensvollen Schritte trugen sie hierauf dem nächsten Tore zu; doch die Besinnung kehrte ihr bald wieder, und sie wandte sich, um nach dem Kloster zu eilen, wo ihr kleiner, hülfloser Knabe zurückgeblieben war. Sie fand das ganze Kloster schon in Flammen, und die Äbtissin, die ihr in jenen Augenblicken, die ihre letzten sein sollten, Sorge für den Säugling angelobt hatte, schrie eben, vor den Pforten stehend, nach Hülfe, um ihn zu retten. Josephe stürzte sich, unerschrocken durch den Dampf, der ihr entgegenqualmte, in das von allen Seiten schon zusammenfallende Gebäude, und gleich, als ob alle Engel des Himmels sie umschirm- ten, trat sie mit ihm unbeschädigt wieder aus dem Portal hervor. […] Sie hatte noch wenig Schritte getan, als ihr auch schon die Leiche des Erzbischofs begegnete, die man soeben zerschmettert aus dem Schutt der Kathedrale hervorgezogen hatte. Der Palast des Vizekönigs war versunken, der Gerichts- hof, in welchem ihr das Urteil gesprochen worden Aufgabe 2 4 6 8 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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