Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

151 „Weimarer Klassik“ (1786/1794–1805)/„Geist der Goethezeit“ (bis 1832) Kleist irritiert So wie auch heute noch die Literaturwissenschaft mit der Einordnung Kleists in die literarische Systematik Probleme hat, so irritierend wirkte Kleist auch auf seine Zeit. Die Figuren in Kleists Werk sind weit entfernt von Maß und Harmonie. Sie sind in Auseinandersetzungen, Fehldeutungen und Leidenschaften verstrickt. Auch Staat und Familie sind bei Kleist nicht nur widersprüch­ lich, sondern für den Menschen oft tödlich. Kleists Werk fand wenig Anerkennung. Nur Einzelne schätzten ihn, wie Wieland, der nach der Lektüre eines Kleist-Dramas schrieb: „Von diesem Augenblicke war bei mir entschie- den, Kleist sei dazu geboren, die große Lücke unserer […] Literatur auszufüllen, die (nach meiner Meinung we- nigstens) selbst von Goethe und Schiller noch nicht aus- gefüllt worden ist […].“ Doch Wieland war eine Ausnah­ me, Kleists Stücke wurden kaum gespielt. „Der zerbro­ chene Krug“ wurde zwar von Goethe aufgeführt, nach­ dem Kleist ihn „auf den Knien seines Herzens“ darum gebeten hatte. Die Aufführung war jedoch ein Miss­ erfolg, für den Kleist Goethes Inszenierung verantwort­ lich machte, wohl nicht zu Unrecht. Auch Kleists Erzäh­ lungen wurden kaum gelesen, zu verstörend waren sie. Und auch der Versuch, sich mit selbst geschriebenen Zeitschriften eine Existenz zu sichern, scheiterte. Der „Phöbus. Journal für die Kunst“ musste ebenso bald ein­ gestellt werden wie die „Berliner Abendblätter“. Kleists kurzes Leben Unter dem Druck der Familie wählt Kleist die Offi­ zierslaufbahn. Es folgen der baldige Abschied vom Mi­ litär, das Studium von Rechtswissenschaft und Philo­ sophie, der Versuch, in der Schweiz als Bauer zu leben, (vermutliche) Spionagetätigkeit gegen Napoleon, die Verfrachtung nach Frankreich als Gefangener, schei­ ternde Zeitschriftenpläne, Selbstmord zusammen mit der unheilbar kranken Henriette Vogel. Kleist liest Kant und stürzt in die Krise Einen besonderen Einschnitt in Kleists Leben markiert seine Beschäftigung mit der Philosophie Kants. Sie stürzt Kleist in eine tiefe Krise. Kant hatte in der „Kritik der reinen Vernunft“ und der „Philosophie der Urteils­ kraft“ festgestellt, dass die menschliche Erkenntnis nie absolut sein könne. Die Welt stellt sich nämlich unter bestimmten Bedingungen dar, in Raum und Zeit, wahrgenommen von den Sinnen und interpretiert vom Verstand. Das „Ding an sich“ kann der Mensch nicht erkennen, nur dessen Erscheinungen sind wahr­ nehmbar. Dass es objektive und für alle gleicherma­ ßen erkennbare und verbindliche Wahrheit gebe, das schien Kleist fortan unmöglich. So schreibt Kleist nach der Lektüre der „Kritik der reinen Vernunft“ an seine damalige Verlobte: Vor kurzem ward ich mit der neueren so genannten Kantischen Philosophie bekannt – und Dir muss ich jetzt daraus einen Gedanken mitteilen, indem ich nicht fürchten darf, dass er Dich so tief, so schmerz- lich erschüttern wird als mich. […] Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblickten, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. […] Chancenlos Diese Unerkennbarkeit der Wahrheit prägt auch Kleists Werk. Seine Personen leiden unter Missverständnis­ sen, Nichterkennen der Situationen, in denen sie sich befinden, und an nicht durchschaubaren Zufällen. „Wir dünken uns frei, und der Zufall führt uns allgewaltig an tausend feingesponnenen Fäden fort“ , schreibt Kleist kurz nach seiner Kant-Krise. Seine Personen haben kei­ ne Chance, sich an objektiven Wahrheiten festzuhal­ ten, keine Möglichkeit, sich so zu verhalten, dass es ihnen und anderen nicht schadet. Auch die Sprache taugt nicht zu objektiver, von Fehlinterpretationen G. Ehrlich, Porträt Heinrich von Kleist, Lithografie, 1923 2 4 6 8 10 12 14 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum d s Verlags öbv

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