Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

147 „Weimarer Klassik“ (1786/1794–1805)/„Geist der Goethezeit“ (bis 1832) Paul zu deren scharfem Kritiker. Goethe sieht er als „Gott […], kalt, einsilbig“ . Aber genauso wenig ak­ zepiert Jean Paul die Flucht in die Idylle, um sich aus der Wirklichkeit fortzuschwindeln. Die wirklich huma­ nistische Art zu leben formuliert der Autor in der Vor­ rede zum Roman „Leben des Quintus Fixlein“: Ich konnte nie mehr als drei Wege, glücklicher (nicht glücklich) zu werden, auskundschaften. Der erste, der in die Höhe geht, ist so weit über das Gewölke des Lebens hinauszudringen, dass man die ganze äußere Welt mit ihren Wolfsgruben, Beinhäusern und Gewitterableitern von weitem unter seinen Füßen nur wie ein eingeschrumpftes Kindergärtchen liegen sieht. – Der zweite ist, gerade herabzufallen ins Gärtchen und da sich so einheimisch in eine Furche einzunisten, dass, wenn man aus seinem warmen Lerchennest heraussieht, man ebenfalls keine Wolfsgruben, Beinhäuser und Stangen, sondern nur Ähren erblickt, deren jede für den Nestvogel ein Baum und ein Sonnen- und Regenschirm ist. Der dritte endlich – den ich für den schwersten und klügsten halte – ist der, mit den beiden andern zu wechseln. Wutz, der Lebenskünstler Die kompakteste Erzählung des Autors, der mit wah­ rem Namen Johann Paul Friedrich Richter hieß und sich das „Jean“ wegen des von ihm verehrten Rous­ seau zulegte, ist ohne Zweifel der dem Roman „Die unsichtbare Loge“ als selbständige Erzählung ange­ fügte, gerade 30 Seiten umfassende „Wutz“. Wutz – der Vorname Maria wurde bis ins 20. Jahrhundert manch­ mal auch männlich gebraucht – ist ein Lebenskünstler, der den „dritten“ Weg geht. Dazu hat er seit seiner Ju­ gend Verhaltensparagraphen entwickelt. Hier Aus­ schnitte aus drei Paragraphen: Paragraph eins: dem Tag Höhepunkte geben Den ganzen Tag freute er sich auf oder über etwas. „Vor dem Aufstehen“, sagt’ er, „freu’ ich mich auf das Frühstück, den ganzen Vormittag aufs Mittagessen, zur Vesperzeit aufs Vesperbrot und abends aufs Nachtbrot – und so hat der […] Wutz sich stets auf etwas zu spitzen.“ […] „Abends“, dacht’ er, „lieg’ ich auf alle Fälle, sie mögen mich den ganzen Tag zwicken und hetzen, wie sie wollen, unter meiner warmen Zudeck und drücke die Nase ruhig ans Kopfkissen, acht Stunden lang.“ – Und kroch er endlich in der letzten Stunde eines solchen Leidentages unter sein Oberbett: so schüttelte er sich darin, krempte sich mit den Knien bis an den Nabel zusammen und sagte zu sich: „Siehst du, Wutz, es ist doch vorbei.“ Paragraph zwei und drei: den Tag froh beginnen Ein andrer Paragraph aus der Wutzischen Kunst, stets fröhlich zu sein, war […], stets fröhlich aufzu- wachen – und um dies zu können, bedient’ er sich eines dritten und hob immer vom Tage vorher etwas Angenehmes für den Morgen auf, entweder geback- ne Klöße oder ebensoviel äußerst gefährliche Blätter aus dem Robinson, der ihm lieber war als Homer – oder auch junge Vögel oder junge Pflanzen, an denen er am Morgen nachzusehen hatte, wie nachts Federn und Blätter gewachsen. Den dritten und vielleicht durchdachtesten Paragraphen seiner Kunst, fröhlich zu sein, arbeitete er erst aus, da er Sekundaner1 ward: er wurde verliebt. Geben Sie mündlich Wutz’ „Glücksparagraphen“ wieder. 2 4 6 8 10 12 14 16 2 4 6 8 10 12 14 2 4 6 8 10 12 1 Schüler der vorletzten Klasse des Gymnasiums Aufgabe F. W. Bollinger, Porträt Jean Paul, Kupferstich Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum d s Verlags öbv

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