Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
131 Sturm und Drang (1770–1785/90) „Wir sind entspannter, als wir fürchten“ SPIEGEL ONLINE: In Ihrem Buch „Bestseller. Bücher, die wir lieben – und was sie über uns verraten“ stellen Sie die These auf, dass die Stimmung einer Gesellschaft in den Listen ablesbar ist. Wie sind wir gerade drauf? Magenau: Wir sind entspannter, als wir in unserer doch eher hysterischen Gegenwart fürchten. Nehmen Sie die ersten zehn der Sachbuchliste: „Die Kunst des guten Lebens“, „Über den Anstand in schwierigen Zeiten“, „Nächste Ausfahrt Zukunft“, das sind alles Werke, in denen es um Wissen, Moral und das besse- re Leben geht. SPIEGEL ONLINE: Und was erfahren wir noch? Sie haben schließlich rund 110 Titel analysiert, von 1945 bis heute. Magenau: Zwei englische Wissenschaftler haben jüngst ein Computerprogramm vorgestellt, das angeblich 80 Prozent aller Bestseller vorhersagt. Demnach darf ein Buch nicht mehr als zwei Themen behandeln, um Bestsellerpotential zu haben. Das finde ich ein biss- chen banal. Für meine Auswahl reichte eine hohe Auf- lage allein nicht, das Buch musste Debatten hervorge- rufen, eine Wirkungsgeschichte haben. Ich wollte eine Gesellschaftskritik zeichnen: Es braucht eine Zeitstim- mung, damit ein Buch zündet. Das sieht man an den Naturthemen, allen voran die Titel von Peter Wohlle- ben, dessen „Die geheime Sprache der Bäume“ der Su- permegaseller der letzten Jahre ist. SPIEGEL ONLINE: Nature Writing ist aber kein rein deutsches Phänomen. Was befriedigen diese Bücher? Magenau: Naturwissenschaften haben nach 1989 die Gesellschaftstheorie als primäres Welterklärungsmo- dell abgelöst. So auch Wohlleben: […] Er beschreibt den Wald als sozialdemokratischen Staat, in dem die Starken den Schwachen helfen. Diese Gattung spiegelt ein typisches Bestsellermuster: Es geht um etwas, das im Verschwinden begriffen ist. Die Natur ist bedroht. SPIEGEL ONLINE: Realitätsflucht also. Die gehört zum Lesen dazu – auch ein Bestsellerfaktor? Magenau: Bestseller spiegeln gesellschaftliche Zustän- de – und erlauben gleichzeitig, ihnen zu entkommen. Nehmen Sie die vergangenen Achtziger, das Jahr- zehnt der „German Angst“, mit Waldsterben, Anti-AKW-Bewegung und Raketenbedrohung. Auf der Bestsellerliste waren sie begleitet von Fantasyliteratur: Tolkiens „Herr der Ringe“, „Momo“ von Michael Ende, das Mittelalter von Umberto Ecos „Der Name der Rose“. Aber die ganze Kapitalismuskritik und Weltangst war darin aufgehoben. Diese Doppelbewe- gung gilt auch für den ersten großen Sachbuchbest- seller nach dem Krieg: C. W. Cerams „Götter, Gräber und Gelehrte“ von 1949 über Archäologie. Im Klap- pentext steht explizit: Hier schreibt ein deutscher Au- tor, aber nicht über den Krieg. Dass man sich in ei- nem zerstörten Land für untergegangene Kulturen interessierte, war sicher kein Zufall. […] SPIEGEL ONLINE: Nach all Ihren Bestselleranalysen: Wie ist Ihre Haltung den deutschen Lesern gegenüber? Magenau: Ich war überrascht, wie viele starke Bücher doch erfolgreich geworden sind. Es heißt zum Beispiel immer: Bis 1968 herrschte das große Schweigen über die NS-Zeit. Dabei gab es permanent Bestseller über den Nationalsozialismus: Egal ob 1946 Eugen Kogons „Der SS-Staat“, 1965 Peter Weiss’ „Ermittlung“ und 68/69 – als die Studenten klagten, dass ihre Väter schweigen – erschien nicht nur die „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz, sondern auch die „Erinnerungen“ von Albert Speer. Die sind zwar, wie wir heute wissen, alles andere als wahrheitsgetreu, waren aber auch kein Schweigen. Quelle: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/joerg-magenau-ein-g anzes-buch-ueber-bestseller-a-1194859.html, 28.02.2018; abgerufen 15.04.2019. Peter Wohlleben , ein deutscher Förster, setzt sich für eine ökologisch und ökonomisch nachhaltige Waldwirtschaft ein. Weltweites Interesse fand sein Buch „Das geheime Leben der Bäume“ (2015). Eugen Kogon (1903–1987) war als Gegner des National- sozialismus im KZ Buchenwald interniert. Das Theaterstück „Die Ermittlung“ von Peter Weiss (1916–1982) befasst sich mit den Prozessen, die im Nachkriegsdeutschland gegen SS-Leute des KZ Auschwitz geführt wurden. Der Roman „Die Deutschstunde“ von Siegfried Lenz (1926–2014) befasst sich mit der Frage von Schuld in der Zeit des Nationalsozialismus und kritisiert die Floskel, man habe ja „nur seine Pflicht getan“. Albert Speer (1905–1981), im Nürnberger Kriegsverbre- cherprozess 1946 zu 20 Jahren Haft verurteilt, war Hitlers „Stararchitekt“. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 Info Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigen um des V rlags öbv
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