Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

128 Sturm und Drang (1770–1785/90) Grenzenlos Was sollen wir lesen? – Die Frage des literarischen Kanons Klopstock – hoch gelobt und schnell vergessen Es gibt Dichter, von denen mehr gesprochen als gelesen wird. Klopstock gehört dazu. Seine literaturgeschichtli­ che Bedeutung ist unumstritten. Kaum einer hat in der deutschen Literatur so viel Nachahmung und Nachfolge gefunden wie der Dichter des „Messias“. Er half mit, das literarische Regelkorsett Gottscheds zu überwinden, und öffnete der deutschen Sprache Möglichkeiten, die weit über seine Zeit hinaus wirkten. Er war auch der Erste, der in Deutschland als Autor eine herausragende gesellschaftliche Stellung innehatte. Sein Begräbnis in Hamburg war außerordentlich. Dem Sarg folgten über hundert Kutschen mit Vertretern der geistigen und poli­ tischen Elite des Landes, ausländischer Regierungen und der Kirche und 50.000 Menschen aller Schichten. Die Glocken der Kirchen in Hamburg läuteten, die Schif­ fe im Hafen flaggten auf Halbmast. Bis heute hat kein anderer deutscher Dichter ein so prunkvolles Begräbnis erhalten. Doch seine Bücher? Die wurden schon zu Leb­ zeiten des Autors immer weniger gelesen; im Gegenteil. Bald wurde er abgetan: „Wer wird nicht einen Klopstock loben? / Doch wird ihn jeder lesen? – Nein. / Wir wollen weniger erhoben / und fleißiger gelesen sein“ , schrieb schon Lessing. Und heute? Heute ist der Name Klopstock nur innerhalb der Literaturwissenschaft noch ein Begriff. Auch seine Werke, an erster Stelle der be­ rühmte „Messias“, werden nur noch von der Fachwis­ senschaft gelesen. So wie Klopstock schnell vergessen wurde, so hatten Klopstocks Freunde einige Zeit zuvor Christoph Martin Wieland in die Vergessenheit zu drän­ gen gesucht. Zu locker, zu wenig „deutsch“ war ihnen Wieland. Demonstrativ zündeten sie mit Texten Wielands ihre Pfeifen an. Heute mehr geschätzt als früher Lessing wird heute mehr gelesen als der damals hoch gepriesene Herder. Kleist hatte keine Chance gegen Goethe, der ihn als maßlos und unharmonisch abtat; heute schätzt man Kleist als einen der größten Erzäh­ ler und Dramatiker. Hölderlin war fast ein Jahrhundert vergessen, bis die Expressionisten 1910 auf verscholle­ ne Manuskripte des Autors stießen und begeistert wa­ ren. Heute gilt Hölderlins Werk als eines der herausra­ gendsten der deutschen Literatur. Purer Zufall? Ist es also Zufall, welche Werke geschätzt werden, wel­ che Dichter/Dichterinnen eine „Chance“ haben, gele­ sen zu werden, welche Autorinnen und Autoren in ei­ ner Literaturgeschichte erscheinen? Sicherlich nicht „ganz“! Freilich wechseln Wertschätzungen, eine be­ stimmte Auswahl von Werken scheint allerdings kon­ stant geschätzt zu werden, auch wenn immer wieder Werke vergessen werden und neue dazukommen. Vie­ le Institutionen bemühen sich, eine Auswahl von Wer­ ken, den so genannten Kanon, zu fixieren, den man kennen und lesen sollte. Freilich wird einem solchen Kanon auch manchmal der Vorwurf gemacht, diktato­ risch zu sein. Nur: Ein Kanon muss nicht zwanghaft befolgt werden, Leseanregungen kann man mit dieser Hilfe aber bestimmt finden. Ein Kanon für die Schule Für Schüler/Schülerinnen hat die deutsche Wochenzei­ tung „Die Zeit“ einen Kanon von 50 Werken als eine Art Basisbibliothek der deutschsprachigen Literatur zu­ sammengestellt. Keiner könnte die Matura bestehen, der nicht weiß, was H 2 O ist oder eine Hypotenuse, ar­ gumentieren die Ersteller des Kanons. Sie möchten deshalb auch für die Literatur ein Basiswissen festset­ zen, wie es für jedes Fach üblich ist. Unter http://wiki.zum.de/Schullektüre-im-Deutsch ­ unterricht können Sie diese Liste einsehen. Porträt Friedrich Gottlieb Klopstock, 1779 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Ei entum des Verlags öbv

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