Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

127 Sturm und Drang (1770–1785/90) Der Fokus Das Briefeschreiben – der „Chatroom des 18. Jahrhunderts“? Briefe werden Mode Als „Chatroom des 18. Jahrhunderts“ bezeichnet die Lite­ raturwissenschafterin Evelyne Polt-Heinzl den Brief- Boom in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Doch blättern Sie noch einmal zurück zu Schillers Brief an sei­ nen Herzog auf Seite 121. Dieser zeigt die für einen Dich­ ter überraschende, aber damals durchaus übliche unnatürlich-geschraubte Kanzleisprache: Anreden und Ergebenheitsformeln waren für die Schreiben an die Obrigkeiten genau vorgeschrieben. „Briefsteller“ – Mus­ terbriefe – informierten über die Formvorschriften. Auch an den Universitäten wurde Briefkultur geübt. Karl Phi­ lipp Moritz bemerkte dazu: Die Deutschen „machen ein eigenes Studium daraus, ihre kriechende Unterwürfig- keit gegen ihre Hochgebornen und Durchlauchtigsten Tyrannen in ihren Titulaturen an den Tag zu legen“. Briefe werden individuell Parallel zu diesen standardisierten Briefen entwickelte sich der Brief zum Kommunikationsmittel zwischen An­ gehörigen des gleichen Standes und wurde zu einer Form des Gesprächs über örtliche Entfernungen hin­ weg. Individuelles, Persönliches, Subjektives finden in ihm ihren Platz. Mit den Briefen haben erstmals auch die Frauen die Möglichkeit, sich in eine über den engs­ ten persönlichen Rahmen hinausgehende Kommunika­ tion einzubringen. Nicht zu vernachlässigen ist auch die materielle Voraussetzung für die private Briefkultur, nämlich der erstmals funktionierende Postdienst. Er er­ möglicht nicht nur prinzipiell die Zustellung von Brie­ fen, sondern diese Zustellung vollzieht sich nun inner­ halb überschaubarer Zeit. So fiel ein großer Nachteil des Briefverkehrs weg. War die Zeit zwischen Abfas­ sung und Ankunft des Briefes zu lange, so war vielfach der Inhalt nicht mehr aktuell, was besonders bei Liebes­ briefwechseln problematisch werden konnte. Gilt das auch fürs Mailen? Die Wissenschaft sieht zum Teil auch in der Kommuni­ kation per Internet und im saloppen Stil der E-Mails die Tendenz zur Offenheit über soziale Grenzen oder Bildungsschranken hinweg und Parallelen zur Befrei­ ung des Briefes aus den Regelzwängen der Kanzlei­ briefe im 18. Jahrhundert. ■■ Briefe des 18. Jahrhunderts wurden mit Feder und Tinte, auf Sekretären (Schreibtischen) geschrieben, mit Streupulver getrocknet, versiegelt. Das Schreiben von E-Mails und SMS vollzieht sich sehr viel nüchterner. Erläutern Sie, welche Auswirkungen diese Versachlichung auf Sender, Empfänger und Inhalt haben könnte. ■■ Beschreiben Sie, wie in E-Mails oft versucht wird, Emotionen auszudrücken. Moderne Beziehungen in Briefen und E-Mails Evelyn Schlag: „Das L in Laura“ (2003) Sie lebt in Wien, er in England, sie treffen einander in Lissabon. Wieder zu Hause wird täglich gemailt und geschrieben. In den E-Mails und Briefen bleiben sie einander vertrauter als in der persönlichen Begegnung, „als wären sie seit Monaten in einer Raumkapsel miteinander unterwegs, in der sie einander nicht sahen und nur von verbaler Nahrung am Leben gehalten wurden“ . Daniel Glattauer: „Gut gegen Nordwind“ (2006) Auch Emmi und Leo lieben einander ausschließlich über E-Mails. Der Grund: ihre Angst, dass die erste, zufällige Mail-Begegnung in der Realität zur Enttäuschung führen könnte. Im Fortsetzungsband „Alle sieben Wellen“ (2009) kommt es schließlich zur persönlichen Begegnung. Emmis und Leos Entschluss danach: „Ob es mit uns weitergehen soll? – Unbedingt. – Wohin? – Nirgendwohin. Einfach nur weiter. Du lebst dein Leben. Ich lebe mein Leben. Und den Rest leben wir gemeinsam.“ Leserinnen drängen schon auf eine weitere Fortsetzung: „Lieber Herr Glattauer, ich will Sie ja nicht unter Druck setzen, aber: wenn nicht bald wieder ein neues Buch von Ihnen erscheint, machen Sie zumindest 1 Menschen unglücklich: MICH.“ Aufgabe Info Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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