Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
126 Sturm und Drang (1770–1785/90) 7 „... weil das Fräulein eine große Anlage von Verstand zeigte.“ Sophie von La Roche: „Geschichte des Fräuleins von Sternheim“ (1771) Eine starke Frau Das Fräulein von Sternheim kommt nach dem Tod ih rer Eltern unter die Obhut von Verwandten am Fürs tenhof. Sie distanziert sich bewusst von den putzsüch tigen, koketten und Intrigen spinnenden Hofdamen, die das Fräulein dem Fürsten als Mätresse zuführen wollen. Sie unterstützt lieber Arme und Kranke. Solche Kritik am Hof in einem Roman zu formulieren, war nicht ohne Wagnis, noch dazu wenn der Roman von einer Frau stammte. Deshalb erschien das Werk anonym, Wieland zeichne te als Herausgeber. Der Roman stellt dar, wie sich eine Frau selbständig entwickeln kann, ohne ihre Bestim mung darin zu sehen, in erster Linie der Männerwelt zu gefallen. Basis für ihre Selbständigkeit sind die ihr nach dem frühen Tod der Mutter vom verständnisvol len Vater ermöglichte Bildung und die Möglichkeit, früh aktiv tätig zu sein. Und weil das Fräulein eine große Anlage von Verstand zeigte, beschäftigte er [der Vater] diesen mit der Philosophie nach allen ihren Teilen, mit der Geschichte und den Sprachen, von denen sie die englische zur Vollkommenheit lernte. In der Musik brachte sie es, auf der Laute und im Singen, zur Vollkommenheit. Das Tanzen, soviel eine Dame davon wissen soll, war eine Kunst, welche eher von ihr eine Vollkommenheit erhielt, als dass sie dem Fräulein welche hätte geben sollen, […] Neben diesen täglichen Übungen erlernte sie mit ungemei- ner Leichtigkeit alle Frauenzimmerarbeiten, und von ihrem sechzehnten Jahre an bekam sie auch die Führung des ganzen Hauses […] Angeborne Liebe zur Ordnung und zum tätigen Leben, erhöht durch eine enthusiastische Anhänglichkeit für das Anden- ken ihrer Mutter […] brachten sie auch in diesem Stücke zu der äußersten Vollkommenheit. Erläutern Sie, welche Teile der Ausbildung Ihrer Ansicht nach eher als spezifisch „weiblich“ angesehen werden könnten und welche Teile „geschlechtsspezifische“ Grenzen überschreiten. Um den Nachstellungen des Fürsten zu entkommen, geht das Fräulein die Ehe mit einem ihr vertrauens würdig erscheinenden Engländer ein. Doch der ver schleppt sie nach Schottland. Schwer krank geworden, hält sie sich mit Erziehungsprogrammen für Mädchen, Mägde und Knechte des Dorfes aufrecht: Ich kannte den ganzen Wert alles dessen, was ich verloren hatte; aber meine Krankheit und Betrach- tungen zeigten mir, dass ich noch in dem wahren Besitz der wahren Güter unseres Lebens geblieben sei. Mein Herz ist unschuldig und rein. Die Kennt- nisse meines Geistes sind unvermindert. Die Kräfte meiner Seele und meine guten Neigungen haben ihr Maß behalten; und ich habe noch das Vermögen, Gutes zu tun. Meine Erziehung hat mich gelehrt, dass Tugend und Geschicklichkeiten das einzige wahre Glück, und Gutes tun, die einzige wahre Freude eines edlen Herzens sei […]. Analysieren Sie, was für das Fräulein die „wahren Güter“ des Lebens sind. Die Tugend des Fräuleins wird belohnt. Nach dem Tode ihres schließlich von ihrer Menschlichkeit getrof fenen, alles bereuenden ersten Mannes wird sie die Gattin eine angesehenen Lords und geliebte Ehefrau und Mutter. Porträt Sophie La Roche, 1762 2 4 6 8 10 12 14 16 18 Aufgabe 2 4 6 8 10 12 Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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