Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

125 Sturm und Drang (1770–1785/90) Werther, Goethe und Jerusalem Goethes „Werther“ hat autobiografische Hintergründe. 1772 praktiziert der Autor als Jurist im Gericht von Wetz­ lar. Auf der Fahrt zu einem Fest sitzen Goethe und eine Dame namens Charlotte (Lotte) Buff in der gleichen Kutsche. Der 23-Jährige verliebt sich sofort. Doch Char­ lotte ist bereits an Johann Christian Kestner vergeben, acht Jahre älter als Goethe. Lotte schwärmt wie Goethe für Natur und Poesie, aber sie macht ihm klar, dass sie zu Kestner gehört. „Sie hält ihn kurz“ , vermerkt Kestner in seinem Tagebuch. Dennoch pflegen alle drei freund­ schaftlichen Umgang. Im Herbst fühlt sich Goethe in dieser Dreieckssituation so unwohl, dass er nach Frank­ furt flüchtet, wo er für Lotte und Kestner die Eheringe besorgt. Auf der Fahrt nach Frankfurt macht er bei So­ phie von La Roche Station, der Autorin der „Geschichte des Fräuleins von Sternheim“, und verliebt sich in ihre 16-jährige Tochter Maximiliane. Doch auch sie ist schon versprochen, an den 20 Jahre älteren Kaufmann Peter Brentano. In Wetzlar erschießt sich aus unglücklicher Liebe im Herbst des Jahres der Beamte Carl Wilhelm Jerusalem, den Goethe auf dem Fest mit Lotte getroffen hatte. Die Pistolen hatte sich Jerusalem von Kestner ausgeliehen. In diesem Moment schoss für Goethe laut „Dichtung und Wahrheit“ das Material „von allen Seiten zusammen und ward eine solide Masse“ . In vier Wochen war „Werther“ geschrieben. Der gefährliche, der glückliche, der neue „Werther“ Man kleidet sich à la Werther: gelbe Weste, blauer Frack, braune Stulpenstiefel, runder Filzhut. „Eau de Werther“ dient als Parfum, Porzellan, bemalt mit Wertherszenen, schmückt die Haushalte. Selbstmörder stellen ihren Suizid dem Freitod Werthers nach. Leipzig, Kopenhagen, Mailand verbieten das Buch. In Leipzig ist es bis 1825 untersagt, die Werther-Tracht zu tragen. Goethe argumentiert, er gebe durch sein eigenes Überleben das beste Beispiel: Man müsse sich seine Probleme von der Seele schreiben. Ein glückliches Ende nimmt das „Werther“-Thema in der Anekdote „Der neuere (glücklichere) Werther“ von Heinrich von Kleist. – Zur Identifikationsfigur wird „Old Werther“ auch für den Edgar, den Helden aus dem 1972 in der DDR erschienenen Stück „Die neuen Leiden des jungen Werther“ von Ulrich Plenzdorf. In einer oberflächlichen Gesellschaft ist Edgars Freund Willi der einzige Kontakt. Edgar schickt ihm Tonbänder mit Zitaten aus Goethes „Werther“, um seine Lage zu beschreiben. Auch Edgar endet tragisch. Das Echo der Zeit „Werther“ wurde ein Bestseller. Befürworter und Kriti­ ker des Textes lieferten einander mediale Fehden. Pa­ rodisten fühlten sich herausgefordert, den extremen Gefühlen des Textes satirisch die Spitze zu nehmen, vor allem weil mit dem Text auch gefährliche „Neben­ wirkungen“ in Zusammenhang gebracht wurden: eine Reihe von Selbstmorden im „Werther-Stil“. Fassen Sie die beiden folgenden Stellungnah­ men zu „Werther“ zusammen! Christian Daniel Schubart in: Deutsche Chronik, 5. Dezember 1774 Da sitz ich mit zerflossnem Herzen, mit klopfender Brust und mit Augen, aus welchen wollüstiger Schmerz tröpfelt, und sag Dir, Leser, dass ich eben „Die Leiden des jungen Werther“ von meinem lieben Goethe – gelesen? – nein, verschlungen habe. Kritisieren soll ich? Könnt’ ich’s, so hätt ich kein Herz … Soll ich einige schöne Stellen herausheben? Kann nicht … Kauf ’s Buch und lies selbst! Dekan der theologischen Fakultät Leipzig an die Sächsische Bücherzensurbehörde am 28. Januar 1775 Es wird ein Buch verkauft, welches den Titel führt Leiden des jungen Werthers usw. Diese Schrift ist eine Apologie 1 und Empfehlung des Selbst-Mordes; und es ist auch um des Willens gefährlich, weil es in witziger und einnehmender Schreibart abgefasst ist. Einige gelehrte und sonst gesetzte Männer haben gesagt, dass sie sich nicht getrauet hätten das Buch durchzulesen, sondern es etliche Male weggelegt hätten. Da die Schrift also üble Impressiones machen kann, welche, zumal bei schwachen Leuten, Weibs­ personen, bei Gelegenheit aufwachen, und ihnen verführerisch werden können; so hat die Theologi- sche Fakultät für nötig gefunden zu sorgen, dass diese Schrift unterdrücket werde: da zumal itzo die Exemples des Selbst-Mordes frequenter werden. Daher ich die Löbl. Bücher Commission im Namen jener ersuche, den Verkauf dieser Schrift zu verbie- ten, und dadurch üblen Folgen vorbeugen zu helfen. Info Aufgabe 2 4 6 8 2 4 6 8 10 12 14 16 18 1 Verteidigung Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Ei entum des Verlags öbv

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