Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

123 Sturm und Drang (1770–1785/90) Ein alter Kammerdiener des Fürsten, der ein Schmuck- kästchen trägt. […] Kammerdiener: Seine Durchlaucht der Herzog empfehlen sich Mylady zu Gnaden, und schicken Ihnen diese Brillanten zur Hochzeit. Sie kommen soeben erst aus Venedig. Lady (hat das Kästchen geöffnet und fährt erschrocken zurück) : Mensch! was bezahlt dein Herzog für diese Steine? Kammerdiener (mit finsterm Gesicht) : Sie kosten ihn keinen Heller. Lady: Was? Bist du rasend? Nichts? – und (indem sie einen Schritt von ihm wegtritt) du wirfst mir ja einen Blick zu, als wenn du mich durchbohren wolltest – Nichts kosten ihn diese unermesslich kostbaren Steine? Kammerdiener: Gestern sind siebentausend Landskinder nach Amerika fort – Die zahlen alles. Lady (setzt den Schmuck plötzlich nieder und geht rasch durch den Saal, nach einer Pause zum Kammerdiener) : Mann, was ist dir? Ich glaube, du weinst? Kammerdiener (wischt sich die Augen, mit schreckli- cher Stimme, alle Glieder zitternd) : Edelsteine wie diese da – Ich hab auch ein paar Söhne drunter. Lady (wendet sich bebend weg, seine Hand fassend) : Doch keinen Gezwungenen? Kammerdiener (lacht fürchterlich) : O Gott – Nein – lauter Freiwillige. Es traten wohl so etliche vorlaute Bursch vor die Front heraus und fragten den Obersten, wie teuer der Fürst das Joch Menschen verkaufe? – aber unser gnädigster Landesherr ließ alle Regimenter auf dem Parade- platz aufmarschieren und die Maulaffen nieder- schießen. Wir hörten die Büchsen knallen, sahen ihr Gehirn auf das Pflaster sprützen, und die ganze Armee schrie: Juchhe nach Amerika! Lady (fällt mit Entsetzen in den Sofa) : Gott! Gott! – Und ich hörte nichts? Und ich merkte nichts? Kammerdiener: Ja, gnädige Frau – warum musstet Ihr denn mit unserm Herrn gerad auf die Bären- hatz reiten, als man zum Aufbruch schlug? – Die Herrlichkeit hättet Ihr doch nicht versäumen sollen, wie uns die gellenden Trommeln verkün- digten, es ist Zeit, und heulende Waisen dort einen lebendigen Vater verfolgten, und hier eine wütende Mutter lief, ihr saugendes Kind an Bajonetten zu spießen, und wie man Bräutigam und Braut mit Säbelhieben auseinanderriss, und wir Graubärte verzweiflungsvoll dastanden und den Burschen auch zuletzt die Krücken noch nachwarfen in die neue Welt – Oh, und mitunter das polternde Wirbelschlagen, damit der Allwis- sende uns nicht sollte beten hören. Lady: (steht auf, heftig bewegt) Weg mit diesen Steinen – sie blitzen Höllenflammen in mein Herz. (Sanfter zum Kammerdiener) Mäßige dich, armer alter Mann. Sie werden wiederkommen. Sie werden ihr Vaterland wiedersehen. Kammerdiener (warm und voll) : Das weiß der Himmel! Das werden sie! – Noch am Stadttor drehten sie sich um und schrien: „Gott mit euch, Weib und Kinder! – Es leb’ unser Landesvater – am Jüngsten Gericht sind wir wieder da!“ ■■ Fassen Sie den Bericht des Kammerdieners zusammen. ■■ Beschreiben Sie die emotionale Veränderung, welche die Lady ergreift. 6 Gefeiert, nachgeahmt und angegriffen Johann Wolfgang von Goethe: „Die Leiden des jungen Werthers“ (1774) Ein Roman ohne moralischen Zeigefinger Zur Leipziger Herbstmesse 1774 erschien anonym der Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“. Er ent­ hält Briefe Werthers, adressiert an seinen Freund Wil­ helm, ergänzt durch Berichte des fiktiven Herausge­ bers der Briefe, der sich einschaltet, als Werthers Ver­ zweiflung schon einen extremen Grad erreicht hat. Doch der Name des Verfassers blieb nicht lange ver­ borgen, das Werk löste sofort heftigste Diskussionen aus. Der Grund: Von den Romanen der Aufklärung war 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 42 54 56 58 60 62 64 Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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