Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

122 Sturm und Drang (1770–1785/90) strömt, um dieses berüchtigte Stück zu sehen. Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geball- te Fäuste, stampfende Füße, heisere Schreie im Zu- schauerraum! Fremde Menschen fielen sich in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Türe. Es war eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung hervorbricht.“ Na­ türlich war der Inhalt spannend. Da herrscht Psycho­ terror gegen den Vater. Franz Moor, Zweitgeborener, zurückgesetzt, richtet den Vater psychologisch zugrun­ de: Er verleumdet und entfremdet ihm den Erstgebo­ renen Karl. Der wird vom Vater aufgrund gefälschter Briefe verflucht. Karl wird zum Räuberhauptmann und, als eine Art Robin Hood, zum Rächer der Ge­ schundenen und Entrechteten. Der Vater wird vom Zweitgeborenen in einen Turm gesperrt, wo er verhun­ gern soll, wird aber von Karl entdeckt. Bald erfährt der alte Moor, dass sein Sohn ein Räuber ist, er überlebt diese Nachricht nicht. Karl ersticht seine Geliebte Amalie auf deren Wunsch, denn er hat einen Eid ge­ schworen, dass er die Räuberbande nie verlassen wer­ de. Somit ist für Amalie ein Leben mit ihm unmöglich geworden. Karl stellt sich den Gerichten. Die Sicher­ heit, richtig gehandelt zu haben, hat er, ganz im Ge­ gensatz zu Goethes Götz, nicht. Am Ende erkennt er, „dass zwei Menschen wie ich den ganzen Bau der sittli- chen Welt zugrunde richten würden“ . Die unerhörte (Körper-)Sprache Ekstatisch, voller Emotionen, Kraftausdrücke sind ver­ bale Sprache und Körpersprache der Personen. Eine für das Publikum bisher nicht vorstellbare Vitalität der Figuren ersetzt die Rationalität und Beherrschtheit der Aufklärungsdramen. „Fürchterliche Blicke“ werden aufeinandergeworfen, für Treuebezeugungen werden die Kleider von oben bis unten aufgerissen und die Narben der Kämpfe gezeigt, „grässlich-rasend“ fühlen sich die Männer, „schäumend auf die Erde stampfend“ reagiert Karl, der sich manchmal auch „in ekstatischer Wonne“ fühlt; sie „werfen sich wild in einen Sessel“ , schießen „einander über die Köpfe“ , bloß um sich auf­ zuwecken. So klingt es zum Beispiel, als Karl seinen alten Vater im Turm findet und seinem Bruder Vergel­ tung schwört: Moor: Rache, Rache, Rache dir! grimmig beleidig- ter, entheiligter Greis! So zerreiß ich von nun an auf ewig das brüderliche Band! (Er zerreißt sein Kleid von oben bis unten.) So verfluch ich jeden Tropfen brüderlichen Bluts im Antlitz des offenen Himmels! Höre mich Mond und Gestirne! Höre mich mitternächtlicher Himmel! der du auf die Schandtat herunterblicktest! Höre mich dreimal schröcklicher Gott, der da oben über dem Monde waltet, und rächt und verdammt über den Sternen, und feuerflammt über der Nacht! Hier knie ich – hier streck ich empor die drei Finger in die Schauer der Nacht – hier schwör ich, und so speie die Natur mich aus ihren Grenzen wie eine bösartige Bestie aus, wenn ich diesen Schwur verletze, schwör ich, das Licht des Tages nicht mehr zu grüßen, bis des Vatermörders Blut, vor diesem Steine verschüttet, gegen die Sonne dampft. Bestimmen Sie die dominierenden Stilmittel in Karl Moors Verzweiflungsschwur! „Kabale und Liebe“ – Liebestragödie und Politik Ein Adeliger liebt die Tochter eines Musikus. Beide Vä­ ter sind dagegen. Der adelige Vater, weil er mit seinem Sohn andere Pläne hat, der bürgerliche Vater, weil er weiß, wie unüberwindlich Standesgrenzen sind. Auch hier, wie in den „Räubern“, führen Verleumdungen, In­ trigen, falsche Briefe und Eifersucht zur Katastrophe, zum Tod der Liebenden. Eine ähnliche Thematik, vor allem die moralisch zweifelhafte Adelsgesellschaft, war dem Publikum aus den bürgerlichen Trauerspie­ len Lessings, „Miß Sara Sampson“ und „Emilia Galotti“, bekannt. Das wesentlich Neue in Schillers Stück ist, dass sich die Anklage nicht auf allgemeine oder erfun­ dene Begebenheiten beschränkt, sondern konkrete Missstände anklagt. Viele Fürsten scheuten nicht da­ vor zurück, sich ihren Luxus zu sichern, indem sie ihre Untertanen als Soldaten an fremde Armeen verkauf­ ten, die im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg auf Seiten Englands oder für die Kolonialherren in Afrika kämpfen mussten. 50 % der Verkauften wurden in die­ sen Kriegen getötet. Schillers Landesherr war aller­ dings in diesem Punkt nicht der Schlimmste. Der be­ rüchtigtste Menschenhändler war der Herzog von Hessen-Kassel, der ganze Kontingente an die Englän­ der verschacherte. Die „Kammerdienerszene“ aus dem zweiten Akt von „Kabale und Liebe“ – der Herzog schickt seiner Geliebten Diamanten – thematisiert die­ se Gepflogenheit: 2 4 6 8 10 12 14 16 18 Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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