Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
117 Sturm und Drang (1770–1785/90) 2 Die Frau als Angeklagte Johann Wolfgang von Goethe: „Vor Gericht“ (1776) Ein beliebtes Balladenthema Auffallend oft behandelt der Sturm und Drang in Bal ladenform das Motiv der verführten, vom Liebhaber verlassenen oder unverheiratet schwangeren jungen Frau. Manche Dichter machen daraus schaurige „Soap-Operas“. Der junge Goethe hingegen stellt eine mutige junge Frau in den Mittelpunkt seiner Ballade „Vor Ge richt“. Die mutige Frau „Vor Gericht“ behandelt das Thema der unverheirate ten schwangeren Frau. Der rechtliche Hintergrund: Bei Bekanntwerden einer unehelichen Schwangerschaft wurden die Frauen in den meisten deutschen Staaten vor ein Gericht geführt. Die „Unzucht“ wurde für die Frau mit Pranger und Auspeitschung geahndet. Beide, das Mädchen und seinen Verführer, traf die „Ehrlosig keit“, die zum Verlust der Arbeitsstelle und zu Armut führte. Totgeburten wurden als Mord beurteilt, wenn die Schwangerschaft verheimlicht worden war. Bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts war die Strafe für die Tötung eines neugeborenen Kindes durch seine Mutter kein Diskussionsthema. Die Berechtigung des Todesurteils galt als selbstverständlich, weil man die Tat nur vom religiös-moralischen Standpunkt aus be urteilte. Nun aber beschäftigte man sich zunehmend mit der Frage nach den Hintergründen und wie man einer solchen Tat vorbeugen könne. Vor Gericht Von wem ich’s habe, das sag’ ich euch nicht, Das Kind in meinem Leib. Pfui, speit ihr aus, die Hure da! Bin doch ein ehrlich Weib. Mit wem ich mich traute, das sag’ ich euch nicht, Mein Schatz ist lieb und gut, Trägt er eine goldne Kett’ am Hals, Trägt er einen strohernen Hut. Soll Spott und Hohn getragen sein, Trag’ ich allein den Hohn. Ich kenn ihn wohl, er kennt mich wohl, Und Gott weiß auch davon. Herr Pfarrer und Herr Amtmann ihr, Ich bitt’ lasst mich in Ruh! Es ist mein Kind und bleibt mein Kind, Ihr gebt mir ja nichts dazu. ■■ Beschreiben Sie Charakter und Haltung des lyrischen Ich. ■■ Erläutern Sie, welchen Doppelsinn das Verbum „sich trauen“ in Strophe 2 hat. ■■ Untersuchen Sie, welche Reaktionen der Richter auf die uneheliche Geburt aus dem Gedicht herauszulesen sind. ■■ Erklären Sie, womit das lyrische Ich des Textes den Appell begründet, sie „in Ruhe zu lassen“. ■■ Fassen Sie den folgenden Gedanken des Erziehers und Sozialreformers Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) aus seiner Schrift „Über Gesetzgebung und Kindermord“ (1780) zusammen: „Und endlich, um über den Gegenstand [Kindsmord] von der Leber weg zu reden, was thut das Mädchen am End gegen den Staat, wenn es sein Kind mordet? Ich sehe nichts anders, als es erhaltet den […] so auffallend unnatürlichen und gewaltsam- men Zustand, in welchem es kein Kind gebähren darf, bis es verheurathet [ist], es thut […] nichts anders, als dass es sucht, kinderlos zu bleiben, weil der Staat will, dass es kinderlos sey, und ihm drohet, weil es nicht kinderlos ist.“ 2 4 6 8 10 12 14 16 Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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