Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

116 Sturm und Drang (1770–1785/90) Der Leseraum 1 Wirkliches Erleben statt gespielter Rollen Johann Wolfgang von Goethe: „Willkommen und Abschied“ (1771) Eine Studentenliebe Goethe hatte im Herbst 1770 die Pastorentochter Frie­ derike Brion aus dem unweit von Straßburg gelege­ nen Sesenheim kennen gelernt. Er schrieb Gedichte als Geschenke für Friederike, sie waren ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmt und spiegeln des­ halb intensiv die neue Subjektivität der Sturm-und- Drang-Lyrik. Nach der „Sesenheimer Lyrik“ Goethes ist Lyrik etwas anderes, so urteilt die Literaturwissen­ schaft. Gefühle wie Liebe sind nicht mehr literarisches Spiel, sondern konkret erlebt. Zur „Sesenheimer Lyrik“ zählen das „Maifest“ und das im Jänner 1771 entstan­ dene Gedicht „Willkommen und Abschied“, das Sie hier in einer von Goethe für den späteren Druck leicht ver­ änderten Fassung finden. Willkommen und Abschied Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde! Es war getan fast eh gedacht; Der Abend wiegte schon die Erde, Und an den Bergen hing die Nacht: Schon stand im Nebelkleid die Eiche, Ein aufgetürmter Riese, da, Wo Finsternis aus dem Gesträuche Mit hundert schwarzen Augen sah. Der Mond von einem Wolkenhügel Sah kläglich aus dem Duft hervor, Die Winde schwangen leise Flügel, Umsausten schauerlich mein Ohr; Die Nacht schuf tausend Ungeheuer; Doch frisch und fröhlich war mein Mut: In meinen Adern welches Feuer! In meinem Herzen welche Glut! Dich sah ich, und die milde Freude Floss von dem süßen Blick auf mich; Ganz war mein Herz an deiner Seite Und jeder Atemzug für dich. Ein rosenfarbnes Frühlingswetter Umgab das liebliche Gesicht, Und Zärtlichkeit für mich – ihr Götter! Ich hofft es, ich verdient es nicht! Doch ach, schon mit der Morgensonne Verengt der Abschied mir das Herz: In deinen Küssen welche Wonne! In deinem Auge welcher Schmerz! Ich ging, du standst und sahst zur Erden, Und sahst mir nach mit nassem Blick: Und doch, welch Glück, geliebt zu werden! Und lieben, Götter, welch ein Glück! ■■ Bestimmen Sie im Text die drei Motive Ritt, Ankunft, Abschied. ■■ Untersuchen Sie die Adjektive, Adverbien und Metaphern, welche die jeweils unterschiedli­ che Stimmung wiedergeben. ■■ Erschließen Sie, mit welchen Metaphern Goethe das Fortschreiten der Nacht schildert, welche Antithese die zweite Strophe be­ stimmt, welche Satzart, verglichen mit „alltäglichem“ Sprechen, auffällig oft verwen­ det wird. ■■ Erläutern Sie, welche Veränderung sich im lyrischen Ich der dritten Strophe gegenüber dem Ich der zweiten Strophe vollzieht. ■■ Untersuchen Sie, an welcher Stelle Goethe nicht seine eigenen Emotionen, sondern jene Friederikes zur Sprache bringt. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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