Bausteine Politische Bildung, Wirtschaftskunde und Ökologie, Arbeitsheft

7 zu Bausteine PTS: Seiten 14–15 Österreich ist frei! Bis 1955 war Österreich besetzt. Lies den Zeitungsartikel „Die lange Suche nach den Wurzeln“ und versetze dich in die Lage der folgenden drei Personen: Tatjana, Tatjanas Vater, Tatjanas Mutter. Notiere unterschiedliche Gedanken zu ihren Lebensabschnitten. 1. Quelle: „Die lange Suche nach den Wurzeln“ (gekürzt und vereinfacht, Kurier, 07.08.2018) „Fast ein halbes Jahrhundert musste Tatjana warten, bis sie ihrem Vater, einem ehemaligen sowjeti- schen Besatzungssoldaten, zum ersten Mal gegenüberstand. Vater Nikolaj Taranenko war einer von 400.000 sowjetischen Soldaten, die Österreich im Mai 1945 besetzten. Tatjanas Mutter Emilie, eine Schneiderin, lernte den Funker und Flieger 1946 bei einer Tanzveranstaltung kennen. Liebesbeziehungen zwischen Besatzungssoldaten und Einheimischen waren in allen Zonen üblich. Solange sie geheim blieben, wurden sie toleriert. Von der sowjetischen Militärregierung wurden sie offiziell nicht geduldet und somit gab es auch für die Mütter keine finanzielle Unterstützung. Tatjana kam am 17. Oktober 1947 zur Welt. Ohne seine Tochter gesehen zu haben, wurde Nikolaj nach Riga versetzt. Aufgrund des Kalten Kriegs, der 1947 einsetzte, war es für die meisten Frauen unmöglich, zu den Vätern ihrer Kinder weiterhin Kontakt zu halten. Die jungen Mütter hatten kein Geld und kamen als Alleinerzieherinnen in eine schwierige wirtschaftliche Lage. Da sich auch Emilie nicht um ihre Tochter kümmern konnte, wuchs Tatjana zeitweise in Heimen und auf Pflegeplätzen auf, kam aber wieder zur Mutter zurück. Auch in der Schule hatte es Tatjana schwer. Ein Lehrer nannte sie „Helene“, ihr Name war ihm zu Russisch. „Wenn ich in Groß-Enzersdorf durch die Gassen gegangen bin, haben die Leute die Fenster zug’haut – das Russenkind ist da.“ Die „Russenkinder“ oder „Russenbankert“ waren für viele Men- schen „Kinder des Feindes“ – sie wurden innerhalb der eigenen Familie und der Nachbarschaft abgelehnt und diskriminiert. Tatjanas Mutter sprach mit ihr sehr früh über den Vater – allerdings nur, wenn sie alleine waren. „Mutter hat immer den Finger auf den Mund gelegt, es durfte uns niemand hören.“ Die Suche nach ihren Wurzeln, ihrer Identität, verfolgte sie das ganze Leben. Über eine Bekannte, die Kontakte zum Roten Kreuz hatte, erfuhr sie Mitte der 1980er-Jahre, dass ihr Vater noch lebte. 1989 reiste sie nach Smolensk, mit einem ungewissen Gefühl: Nikolaj Taranenko hatte eine Familie gegründet. Doch ihre zwei Halbgeschwister nahmen sie herzlich auf. Zwei Jahre später kam sie mit ihrer Mutter zu ihm. Es passierte Ungewöhnliches: „Sie wurde während der Zugfahrt immer jünger.“ Als sie einander wieder- sahen, hielt das einstige Paar Händchen und küsste sich. Die gemeinsame Zeit, das Wiedersehen in Smolensk, war kurz, aber intensiv. Die beiden schrieben einander danach noch zahlreiche Briefe. Nikolaj starb 1994, Emilie 2014. Tatjana und ihre Halbschwester haben seit einiger Zeit wieder Kontakt. Sie hofft auf ein Treffen: „Ich habe noch viele Fragen, ich möchte, dass sie mir noch mehr über meinen Vater erzählt.“ I ch u nd d i e Po l i t i k Nur zu Prüfzweck n – Eigentum des Verlags öbv

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