Vielfach Deutsch PTS, Schulbuch

Lies, wie es Louis beim Praktikum im Frisiersalon geht. Die Ladenglocke läutete. „Aber das ist ja unser Gabriel!“, rief Madame Marielou von ihrem Ladentisch aus. Louis entdeckte einen drei- oder vierjährigen Jungen, der wie ein kleines Mädchen aussah. Seine Mama, die ihn stolz vorführte, fuhr ihm mit der Hand durch die blonde Mähne. „Der Pony ist ein bisschen lang, und außerdem sollte hinten ein bisschen gekürzt werden.“ „Zwei Zentimeter?“, frage Madame Marielou. „Oh, höchstens.“ Fifi legte ein dickes Kissen auf den Stuhl und setzte Gabriel darauf, der sehr aufrecht und ganz ernst in seinem rosa Umhang mit kleinen Entlein dasaß. „Ich lass dich hier, mein Herz“, sagte die Mama. „Sei brav, mein Liebling. Mama hat dich lieb, sie kommt gleich wieder, mein Schatz.“ Das alles schien Louis für ein paar Einkäufe im nächsten Supermarkt ein bisschen viel Getue. Fifi feuchtete die Haare des Kindes an und begann mit dem Schnitt des Ponys. Louis setzte sich neben ihn auf den Rollschemel und fing, ohne es zu merken, an, mit dem Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand das Pizzikato der Schere nachzuahmen. „Wollen Sie mal versuchen?“, fragte Fifi ihn plötzlich halblaut. Louis schreckte auf. „Oh, nein, ich …“ „Garance!“, rief Fifi. Er packte die Auszubildende am Ärmel und stellte sie als Deckung vor sich. „So kann sie nichts sehen“, murmelte er Louis zu. Er sprach von Madame Marielou. „Macht ihr Dummheiten?“, erkundigte sich Gabriel. Fifi nickte und drückte Louis die Schere in die Hand. „Nein, ich, nein …“ Halb lachend, halb in Panik schüttelte Louis den Kopf. „Schneidet mir jetzt der große Junge die Haare?“, fragte das Kind. „Beeilt euch“, drängte Garance. Louis hörte auf zu lachen, zu mucksen, ja sogar zu atmen. Er näherte sich mit der Schere dem Pony und legte nun selbst los. Seltsam, seine Finger schienen zu wissen, was zu tun war. Oder es lag an Fifis Schere. Die Gesten kamen ganz instinktiv. „Gut“, ermutigte ihn der junge Friseur. „Sehr gut. Haben Sie schon mal Haare geschnitten? Nein? Unglaubli… Uuuups!“ Mit einem unglücklichen Schnitt hatte Louis gerade glatt eine breite Strähne abgeschnitten. Der hübsche blonde Pony sah aus wie ein zahnloser Kamm. Für einen Moment schien Fifi erschüttert. Aber er war ein findiger Kopf, der sich zu helfen wusste. „Sag mal, Gabriel, halten dich manchmal Leute für ein Mädchen?“ „Ja“, antwortete der Junge. „Möchtest du nicht eher wie ein kleiner Junge aus­ sehen?“, fragte ihn Fifi und suchte mit den Blicken nach dem elektrischen Haarschneider. „Doch.“ „Bist du sicher?“ „Ja.“ Ü4 Buchtipp Marie-Aude Murail: Über kurz oder lang. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. Louis’ erste Erfahrungen mit der Berufs- und Erwachsenenwelt sind Thema dieses Buches. Der schwierige Weg der Selbstfindung wird unterhaltsam erzählt. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 38 Über berufspraktische Tage berichten Grammatik/Rechtschreiben Zuhören / Sprechen Schreiben 2 Lesen Nur zu Prüfzwecken – Eigentu des Verlags öbv

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