Erziehung und Unterricht 2018/3+4
334 Graß, Raum und Zahl – Zusammenhänge zwischen Raumvorstellung und Arithmetik Erziehung und Unterricht • März/April 3-4|2018 vorzudringen als etwa EEG (Elektroenzephalografie) oder NIRS (Nahinfrarotspektroskopie). Dadurch weiß man heute, dass gute Rechenleistungen hauptsächlich von der Intaktheit des Parietallappens abhängig sind (z.B. Kaufmann & Nuerk 2007). Das populärste anatomisch-funktionelle Rechenmodell stammt von Dehaene und Cohen (1995) und basiert auf dem bereits beschriebenen Triple-Code-Modell. Dabei werden die drei Module der Zahlenverarbeitung (Codes) spezifischen Gehirnarealen zugeordnet: • Die analoge Größenrepräsentation ist dem intraparietalen Sulcus (IPS) zugeordnet; • die verbal-phonologische Zahlenverarbeitung inklusive arithmetischem Faktenabruf findet in der perisylvischen Furche und in subkortikalen Hirnregionen wie den Basalganglien statt; • der visuell-arabische Code inklusive jener Funktionen, die dem schriftlichen Rechnen angehören, befindet sich in okzipitalen Hirnregionen (Areale im Hinterhauptlappen). In diesem Modell wird zusätzlich die bei komplexeren Rechnungen erforderliche Arbeits- gedächtnisleistung berücksichtigt. Damit ist für kompetentes Rechnen auch die Intaktheit frontaler Hirnregionen (Stirnhirn) unerlässlich. Von besonderer Bedeutung für diese Arbeit ist die Lokalisierung des mentalen Zahlen- strahls im IPS. Der mentale Zahlenstrahl stellt eine direkte Verbindung zwischen räumli- cher Anordnung und symbolischer Zahl dar. Dehaene (2003) berichtet von der Existenz dreier „parietaler Netzwerke“, die in benachbarten und teils überlappenden Bereichen des IPS lokalisiert sind: • Die Mengenverarbeitung findet im horizontalen Segment des IPS (HIPS) statt; • für die räumliche Orientierung am mentalen Zahlenstrahl ist der posteriore superiore Parietallappen (PSPL) verantwortlich und • verbal-phonologisches Wissen wie etwa automatisiertes Faktenwissen wird durch den Gyrus angularis moduliert. Die verbale Verarbeitung findet rein linkshemisphärisch statt, während die beiden anderen Module beide Gehirnhälften beanspruchen. Besonders hervorzuheben ist, dass der Parie- tallappen nicht ausschließlich für die Zahlenverarbeitung verantwortlich ist, sondern auch für zahlreiche nichtnumerische Kognitionen, insbesondere für räumliche Fähigkeiten und Aufmerksamkeit ( Hubbard et al. 2005; Simon et al. 2002). Abschließend sei noch die ATOM-Hypothese („A theory of magnitude“) von Walsh (2003) erwähnt. Hierbei wird vermutet, dass Zahlenverarbeitung im Parietallappen nur ein Teil ei- ner umfassenden Größenrepräsentation ist. Genauso werden in dieser Gehirnregion aber auch räumliche und zeitliche Größen verarbeitet. Mittlerweile sprechen einige empirische Befunde für diese Hypothese (z.B. Cohen Kadosh et al. 2005). Fachdidaktische Evidenz Neben der kognitionswissenschaftlichen Evidenz gibt es auch fachdidaktische Literatur, die über Assoziationen zwischen Raumvorstellung und Arithmetik berichtet. Allen voran sei hier die Untersuchung von Meike Grüßing (2012) erwähnt. 447 Kinder der 4. Schulstufe ab- solvierten einen Raumvorstellungstest sowie einen breit angelegten Mathematiktest. Die Raumvorstellung wurde anhand von selbst adaptierten und präpilotierten klassischen Auf- gaben erhoben. Die Mathematikleistung ergab sich aus 24 präpilotierten Items, die einer- seits aus der TIMSS-Studie 1995 stammten und andererseits aus selbst gewählten offenen Aufgaben. Grüßing (2012) konnte dabei 56,1 % der Varianz der Mathematikleistungen im 4. Schuljahr durch zwei Teilkomponenten der Raumvorstellung (Mentale Rotation und Veran- schaulichung) erklären. Anzumerken ist, dass bei der Untersuchung von Grüßing auch ge-
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